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80. Jahrestag der Inbetriebnahme der “Straße des Lebens”

80. Jahrestag der Inbetriebnahme der “Straße des Lebens”

“Vom Bahnhof Kokkorewo aus fuhren wir mit Autos über das Eis des Sees, umfuhren Rinnen, die von Granaten und Bomben geschlagen worden waren. Irgendwo pfiff es und Detonationen waren zu hören, aber wir überquerten den See ohne Verluste. Das war bereits das Große Land, wo die Menschen uns anschauten und weinten.”1

Erinnerungen von Eduard Brunowitsch Göbel

Das Jahr 2021 hält in Bezug auf die Geschichte der Leningrader Blockade gleich zwei runde Daten bereit. Nachdem sich am 8. September der Beginn der Blockade zum 80. Mal jährte, erwartet uns in diesem Herbst ein weiterer wichtiger Gedenktag: der 80. Jahrestag der Inbetriebnahme der berühmten “Straße des Lebens”. Hierbei handelte es sich um eine Trasse über den Ladogasee, über die Menschen aus dem belagerten Leningrad evakuiert und in umgekehrter Richtung Lebensmittel und Treibstoff in die Stadt gebracht werden konnten. Die “Straße des Lebens” war zeitweise die einzige Versorgungsroute der eingekesselten Stadt. Im heutigen Artikel berichten wir über die Mühen, unter denen sie vor nunmehr acht Jahrzehnten eingerichtet wurde, sowie über die entscheidende Rolle, die sie bei der Rettung Leningrads spielte.

Mit der Einnahme Schlüsselburgs durch die deutsche Armee schloss sich am 8. September 1941 der Belagerungsring um Leningrad. Neben dem Luftweg blieb jetzt nur noch eine einzige Möglichkeit, in die Stadt zu gelangen: der Weg über den östlich von Leningrad gelegenen Ladogasee. Der mit knapp 18.000 km2 größte See Europas aber war bis zu diesem Zeitpunkt kaum für die Schifffahrt genutzt worden, denn er zeichnet sich bis heute durch seine große Unbeständigkeit – häufige Stürme, Nebel, hoher Wellengang – aus. Im Sommer 1941 wurde daher von sowjetischer Seite aus mit Hochdruck daran gearbeitet, den Ladogasee schiffbar zu machen: Am Kap von Ossinowjez am Westufer des Sees wurden Anlegestellen geschaffen, der Hafen wurde vertieft und die bis dahin recht unbedeutende Bahnstation “Ladoschskoje Osero” ausgebaut und befestigt. So konnten schon am 12. September 1941 – vier Tage nach Beginn der Belagerung – die ersten Lebensmittel per Schiff nach Leningrad gebracht werden.

Der erste Blockadewinter 1941/42 war besonders hart: Die Temperaturen fielen auf teilweise bis zu minus 40 Grad. Auf dem Ladogasee bildete sich eine dicke Eisschicht, sodass er nicht mehr mit Schiffen befahren werden konnte. Die täglichen Brotrationen in Leningrad sanken auf das absolute Minimum von 250 Gramm für Arbeiter bzw. 125 Gramm für Kinder und Nichterwerbstätige. Allerdings mussten auch diese Rationen erst einmal herangeschafft werden. Um die Stadt weiterhin verteidigen und ihre Bewohner/-innen ernähren zu können, musste also eine Lösung gefunden werden, auch in den Wintermonaten die notwendigsten Güter nach Leningrad zu bringen. Am 19. November 1941 erging an die Einheiten der Leningrader Front der Befehl Nr. 00172 mit dem Titel “Über die Organisation einer Kraftfahrzeugstraße über den Ladogasee”. Zwei Tage später überquerte ein Treck aus 350 Pferdeschlitten das Eis des Sees. Er brachte 63 Tonnen Mehl an das Kap von Ossinowjez. Wieder einen Tag später, am 22. November 1941, fuhr erstmals eine Kolonne aus 60 Autos vom belagerten West- an das rettende Ostufer und kehrte am Tag darauf mit Lebensmitteln zurück. Dies war die Geburtsstunde der “Militärischen Autostraße Nummer 101”, die später den inoffiziellen Namen “Straße des Lebens” erhielt. Wie der weitere Verlauf der Geschichte zeigen sollte, war dies nicht nur eine poetische Metapher.

Der Weg über den zugefrorenen See war überaus gefährlich: Das Eis wurde vom ständigen Befahren dünn und brüchig, sodass die Fahrspuren ständig verschoben werden mussten. Zudem wurden die Autokolonnen von den am Südufer stehenden deutschen Einheiten beschossen und bombardiert. Aus diesem Grund fuhren die Autos in der Anfangszeit nachts und ohne Scheinwerfer, um den Deutschen kein Ziel zu bieten. Orientieren konnten sie sich nur mithilfe der Lotsinnen, die in regelmäßigen Abständen entlang der Eisstraße postiert waren. Der vom Projektteam der Humanitären Geste gedrehte Kurzfilm “Frauen in der Blockadezeit” enthält ein Interview mit Wera Iwanowna Rogowa, die als junges Mädchen als Lotsin auf der “Straße des Lebens” eingesetzt war und davon berichtet, wie der Betrieb der Trasse organisiert war. Das auf der Eisstraße am häufigsten eingesetzte Fahrzeug war der GAZ-AA, auch bekannt als “Polutorka” (dt. “Anderthalbtonner”), über den wir bereits in einem früheren Artikel berichtet haben. Die knapp über 30 Kilometer lange Trasse verlief vom Kap Ossinowjez bis zu den Dörfern Kobona bzw. Lawrowo am Ostufer des Sees.

Nach einer durch den langen Eisgang bedingten einmonatigen Unterbrechung wurde der Verkehr auf der “Straße des Lebens” ab dem 20. Mai 1942 per Schiff fortgesetzt. Vor dem  Wintereinbruch 1942/43 gelang den sowjetischen Ingenieuren etwas schier Unglaubliches: die Verlegung einer Rohrleitung und eines Stromkabels über den Grund des Ladogasees, über welche Leningrad und die in der Stadt befindlichen Streitkräfte der Roten Armee bzw. Flotte mit Treibstoff und Elektrizität versorgt werden konnten. Die Geschichte der Installation des Stromkabels wurde vom Museum für die politische Geschichte Russlands in einer Ausstellung thematisiert, die wir in unserer Online-Bibliothek vorstellen. Auch im zweiten Blockadewinter wurden Tausende Leningrader über die Eisstraße in das “Große Land” evakuiert.

Die “Straße des Lebens” war bis zum Frühjahr 1943 in Betrieb. Insgesamt konnten mit ihrer Hilfe über eine Million Menschen aus der belagerten Stadt herausgebracht werden. Gleichzeitig wurden über den Ladogasee knapp 1,6 Mio. Tonnen Güter nach Leningrad transportiert – eine logistische Meisterleistung, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Heute verläuft entlang des Ladogasees eine Trasse, die ebenfalls “Straße des Lebens” genannt wird: Hier findet man an jedem Kilometer Denkmäler und Gedenkstätten, die den Ereignissen der Blockadezeit gewidmet sind. Mehrere Museen erzählen von der Geschichte der berühmten Eisstraße: Zu den bekanntesten gehören das Museum “Straße des Lebens” in der Ortschaft Ladoschskoje Osero und das Museum “Kobona: Straße des Lebens”.


Quellen:

Offizielle Website des Museums “Straße des Lebens” (Filiale des Zentralen Marinemuseums “Peter der Große”)

Artikel: “Die “Straße des Lebens” über den Ladogasee im Laufe des Großen Vaterländischen Krieges”. RIA Nowosti, 22.11.2016.

Artikel: “Die 30 Kilometer lange Straße des Lebens. Wie eine “spontane Erfindung” die Einwohner der belagerten Stadt rettete”. TASS, 20.11.2020.


  1. In: Weiße Flamme des grauen Haars: Gesammelte Erinnerungen von Blockadekindern deutscher Herkunft. V.A. Korobowa (red.). Sankt Petersburg: Politechnika-Serwis, 2014. S. 37f.