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Porträts von Blockadeüberlebenden. Teil 4

Porträts von Blockadeüberlebenden. Teil 4

Während der Pilotphase unseres journalistischen Freiwilligenprogramms haben im vergangenen Jahr fünf Nachwuchsjournalist/-innen aus Deutschland mehrere Wochen in Sankt Petersburg verbracht. In dieser Zeit haben sie nicht nur Russisch gelernt, ihr Wissen über die Geschichte der Leningrader Blockade vertieft und am Seminar “Die Verletzbarkeit des Andenkens. Wie man über Tragödien der Vergangenheit schreibt” teilgenommen, sondern auch biografische Interviews mit Überlebenden der Blockade geführt.

Robert Putzbach, Teilnehmer des Programms, hat im Anschluss daran vier Zeitzeugenporträts verfasst. Drei davon haben wir bereits auf unserer Website veröffentlicht:

Heute publizieren wir das vierte und letzte dieser Porträts, die Geschichte des 82-jährigen Viktor Zhigarjow:

“Viktor wurde am 14.10.1937 in Leningrad geboren. An seine frühe Kindheit hat er wenig Erinnerung. Seine Mutter ist in der Nacht auf den 26. April 1942 verstorben. Weil sein Vater an der Front war, war Viktor von nun an allein. Im Treppenhaus traf Viktor einen Jungen namens Jegor, dessen Mutter ebenfalls gestorben war und der nun gemeinsam mit seiner großen Schwester lebte. Die beiden Jungen gingen in den Kindergarten, wo Viktor schließlich blieb. Der Kindergarten wurde später in ein Waisenhaus umgewandelt und Viktor am 8. September zusammen mit anderen Waisenhauskindern evakuiert.

Am Finnischen Bahnhof wurden die 75 Kinder in einen Güterzug geladen, um sie aus der belagerten Stadt zu bringen. Viktor erinnert sich noch gut, wie man zwischen den offenen Waggons hin- und herspringen konnte. Von zwei Offizieren wurden die Kinder in Empfang genommen. Um von den deutschen Flugzeugen aus der Luft nicht gesehen zu werden, mussten die Kinder vom Bahnhof in den naheliegenden Wald spurten. Mit dem Schiff „SOWJET“ wurden sie dann über den Ladogasee gefahren. Nach der Überfahrt wurden sie in ein kleines Haus im Wald gebracht. Dort bekam jeder ein kleines Stück Brot zu essen. Nur ein Stück, denn wer zu lange unter der Mangelernährung gelitten hatte, für den konnte zu viel Nahrung auf einmal zum Tod führen.

Dann ging es für die Kinder aus dem Waisenhaus mit dem Zug weiter von der Front und der belagerten Stadt weg. Sie wurden nach Kansk gebracht, die Zugfahrt dauerte ganze dreißig Tage. Bei Zwischenhalten sprangen Viktor und die anderen aus dem Zug, um Trinkwasser aufzufüllen. Schließlich landeten die Kinder Tausende Kilometer östlich in der Region Krasnojarsk. Dort gab es drei Häuser, die spontan in ein Waisenhaus für die Kinder aus der belagerten Stadt umfunktioniert wurden. Um die Häuser herum wurde ein Zaun gezogen. Viktor erinnert sich, dass sie einen Wolf als Hund hatten, der die Kinder bewachte. Erst im August 1945 nach Ende des Zweiten Weltkrieges sollten sie wieder nach Leningrad zurückkehren. Viktors Vater ist 1943 an der Front ums Leben gekommen. Er war an der Front bei der Flugzeugabwehr tätig.

Besonders der Tag des Sieges, wie der 9. Mai 1945 in Russland genannt wird, ist Viktor in guter Erinnerung geblieben. Er war mit Freunden im Kino und guckte dort einen Film. Im August 1945 wurde Viktor zurück nach Leningrad gebracht und dort von seiner Tante in Empfang genommen. Diese ist allerdings drei Jahre später verstorben und so ging es für Viktor nach Moskau zu einer anderen Tante, wo er jedoch schnell ausbüchste. Die Polizei fand den Jungen und brachte ihn in ein Kloster, wo er ein halbes Jahr streng bewacht lebte. Anschließend kam er in das Waisenhaus auf der Wassilij-Insel in Leningrad. Er schloss die Schule ab, die ins Waisenhaus integriert war. „Damals durften Frauen und Männer nicht gemeinsam unterrichtet werden, wir waren sogar auf dem Hof getrennt“, sagt Viktor heute.

Er fing nach der Schule bereits in jungen Jahren an zu arbeiten. Er war schon mit fünfzehn Jahren in der Fabrik tätig, für damalige Verhältnisse ganz normal. Bis 16 Jahre musste man sechs Stunden arbeiten, wenn man das sechzehnte Lebensjahr erreicht hatte, musste man sogar acht Stunden täglich tätig sein. Es gab als Elektromonteur damals sehr viel zu tun, nach dem Krieg war vieles zerstört und musste erneuert oder neu gebaut werden. Weil er eine Krankheit hatte, wurde er zum Invaliden und machte dann eine Schneiderausbildung. Es zog ihn allerdings schnell zurück in die Fabrik. Nach seiner Rückkehr verrichtete er allerdings keine allzu körperlich anstrengenden Arbeiten mehr. 

Die vielen Umzüge in seiner Kindheit und die allgegenwärtige Unsicherheit haben bei ihm für Beständigkeit im Alter gesorgt. Seit 53 Jahren wohnt Viktor in ein und derselben Wohnung. Da er mit 24 eine Familie gegründet hat, blieb ihm nicht viel Zeit für Reisen. Nach Sibirien ist er bis heute nie zurückgekehrt.”

Robert Putzbach, Teilnehmer des Freiwilligenprogramms für angehende Journalist/-innen