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Die Entstehung des Blockadebuchs

Die Entstehung des Blockadebuchs

Eines der wichtigsten Bücher zur Geschichte der Leningrader Blockade ist das sogenannte „Blockadebuch“. Dabei handelt es sich um eine dokumentarische Chronik, die von den Schriftstellern Daniil Granin (1919-2017) und Ales Adamowitsch (1927-1994) gemeinsam verfasst wurde.

Die Initiative dazu kam von Adamowitsch: Er stammte aus Belarus und hatte zu Beginn der Siebziger Jahre zusammen mit zwei anderen Autoren an dem Buch „Ich bin aus einem verbrannten Dorf …“ gearbeitet. Dafür hatten sie Erinnerungen von Zeitzeugen an die Zerstörung belarussischer Dörfer während des Zweiten Weltkriegs gesammelt und aufgeschrieben. Diese Arbeit brachte Adamowitsch auf die Idee, ein ähnliches Buch über die Blockade zu verfassen.

Im Jahr 1974 suchte Adamowitsch Granin auf und schlug ihm vor, Berichte von Überlebenden der Blockade aufzuzeichnen und daraus ein Buch zu machen. Granin lehnte zunächst ab. Er hatte als Volkswehrkämpfer an der Schlacht um Leningrad teilgenommen und war währenddessen mehrmals in der belagerten Stadt gewesen.

Ich war der Meinung, ich wüsste, was die Blockade gewesen war. […] Nach meiner Ansicht war über die Blockade alles bekannt. [… ] Was war denn die Blockade? Zugegeben – Hunger, Beschuss, Bombenangriffe und zerstörte Häuser. Aber das wusste doch jeder, ich konnte dazu nichts Neues sagen.

Granin, Daniil: „Zur Entstehungsgeschichte des Blockadebuchs“, in: Adamowitsch, A., Granin, D. (2018): Blockadebuch Leningrad 1941-1944. Berlin: Aufbau Verlag GmbH & Co. S. 13.

Adamowitsch redete lange auf Granin ein und bewegte ihn schließlich dazu, mit ihm zusammen die Berichte einiger Blockadeüberlebender anzuhören. Ihre Erzählungen erstaunten Granin, denn sie enthielten viele persönliche Details und offenbarten das Familien- und Seelenleben dieser Menschen während der Blockade, dessen er sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst gewesen war. Aus diesem Grund willigte Granin schließlich ein, mit Adamowitsch ein Buch über die Blockade zu verfassen.

Den beiden Autoren stand nun eine gewaltige dokumentarische Arbeit bevor: Zunächst gemeinsam, später aber auch getrennt, besuchten sie in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre Überlebende in ihren Wohnungen. Die Berichte der Blokadniki nahmen sie mit dem Tonbandgerät auf, um sie anschließend zu transkribieren (wobei sie von zwei Maschinenschreiberinnen unterstützt wurden). Insgesamt sammelten Granin und Adamowitsch 200 Zeitzeugenberichte, also etwa 4000 Seiten Material. Im Anschluss daran begann die eigentliche schriftstellerische Tätigkeit: Zum einen mussten die beiden entscheiden, welche Berichte in den Text einfließen sollten. Zum anderen war die Frage zu klären, was für ein Buch es eigentlich werden sollte, welches „höhere Ziel“ es verfolgen sollte. Granin und Adamowitsch beschlossen, dass ihr Buch „von den Intellektuellen und von Intelligenz handeln sollte“1: Sie wollten zeigen, wie Menschen, die in der für ihre hohe Kultur bekannten Stadt Leningrad aufgewachsen waren, die unsäglichen Leiden der Blockade überstehen und dabei doch Menschen bleiben konnten.

Die Arbeit am „Blockadebuch“ war in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung. Neben der schieren Menge an Material brachte auf die ungewohnte Zusammenarbeit ihre Probleme mit sich:

Da wir beide nicht gewohnt waren, mit einem anderen Autor zusammenzuarbeiten, schrieb Adamowitsch seinen Text und schickte ihn mir. Ich strich ihn zusammen und antwortete ihm, dieses abscheuliche Geschreibsel sei nicht zu gebrauchen. Als ich ihm meine Variante sandte, reagierte er genauso: Das ist schlecht, was soll das? Wer wird das lesen? Überhaupt nicht das, was wir uns vorgenommen haben. Wir stritten, zerrissen Manuskripte, warfen sie fort, verzankten uns und näherten uns auf diese Weise Schritt für Schritt der Endfassung.

Granin, Daniil: „Zur Entstehungsgeschichte des Blockadebuchs“, in: Adamowitsch, A., Granin, D. (2018): Blockadebuch Leningrad 1941-1944. Berlin: Aufbau Verlag GmbH & Co. S. 19.

Für die beiden Autoren war die Arbeit mit den Berichten der Zeitzeugen eine enorme emotionale Belastung. Ursprünglich hatten sie sich mit der Überzeugung ans Werk gemacht, dass es für die Literatur keine Tabus gibt und über alles berichtet werden kann. Doch die Dinge, die sie in den Gesprächen mit den Blockadeüberlebenden erfuhren, stellten diese Prämisse infrage. Granin schreibt dazu im Vorwort des Blockadebuchs:

[…] es stellte sich heraus, dass es unmöglich war, diese Unerträglichkeit, diesen Naturalismus des Lebens in der Blockadezeit an den Leser weiterzugeben. Auch die Literatur hat also Grenzen.

Granin, Daniil: „Zur Entstehungsgeschichte des Blockadebuchs“, in: Adamowitsch, A., Granin, D. (2018): Blockadebuch Leningrad 1941-1944. Berlin: Aufbau Verlag GmbH & Co. S. 22f.

Zudem wurde Granin und Adamowitsch noch während des Schreibprozesses klar, dass die Veröffentlichung des Buches nicht ohne Schwierigkeiten vonstattengehen würde. Ursprünglich sollte der erste Teil des Buches 1977 in der Moskauer Literaturzeitschrift „Nowy mir“ (dt. „Neue Welt“) erscheinen. Die Zensurbehörde gab das Manuskript jedoch nicht frei, denn es beschrieb das eher wenig heroische Alltagsleben der „normalen“ Leningrader – wie sie in ihren Wohnungen und Familien (über-)lebten, wie sie versuchten, mit den Schrecken der Blockade fertigzuwerden. Erst nachdem die von der Behörde geforderten Streichungen und Korrekturen vorgenommen worden waren – es waren insgesamt 65 –, konnte das Blockadebuch publiziert werden. Mit einem halben Jahr Verspätung wurde 1977 ein Fragment des Buchs in „Nowy mir“ abgedruckt. Der erste Teil des Blockadebuchs erschien 1979 im Moskauer Verlag „Sowjetski pissatjel“, der zweite Teil 1981 in „Nowy mir“. 1982 gab „Sowjetski pissatjel“ das gesamte Buch heraus und 1984 erschien es schließlich auch in Leningrad. In postsowjetischer Zeit wurden die zuvor gestrichenen Passagen wieder eingefügt.

Das Blockadebuch wurde für viele Menschen zu einer Offenbarung. Adamowitsch und Granin hatten eine dokumentarische Chronik geschaffen, in der die Erinnerungen der Leningrader im Mittelpunkt standen. Hier konnte man nachlesen, wie sie während der Blockade lebten, arbeiteten und hungerten, was sie fürchteten und worauf sie hofften. Nach der Veröffentlichung des Buches erhielten die Autoren zahlreiche Briefe von Leserinnen und Lesern: Briefe, in denen Überlebende der Blockade sich für diesen Bericht bedankten oder aber ihre eigenen Erinnerungen teilten, um das Buch zu ergänzen.

Die Entstehungsgeschichte des Blockadebuchs ist mittlerweile selbst Thema von Büchern, Filmen und Ausstellungen. Im Jahr 2019 – anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung Leningrads von der Blockade, des 40. Jahrestags der Veröffentlichung des Blockadebuchs und des 100. Geburtstags von Daniil Granin – wurde im Museum für die Politische Geschichte Russlands eine Ausstellung mit dem Titel „Die Menschen wollen es wissen“ gezeigt, die diese Geschichte anhand von Materialien aus den privaten Archiven von Granin und Adamowitsch präsentierte. Das Blockadebuch wurde in verschiedene Sprachen übersetzt, u.a. ins Deutsche.


1 Granin, Daniil: „Zur Entstehungsgeschichte des Blockadebuchs“, in: Adamowitsch, A., Granin, D. (2018): Blockadebuch Leningrad 1941-1944. Berlin: Aufbau Verlag GmbH & Co. S. 17.

Quellen:

Granin, Daniil: „Zur Entstehungsgeschichte des Blockadebuchs“, in: Adamowitsch, A., Granin, D. (2018): Blockadebuch Leningrad 1941-1944. Berlin: Aufbau Verlag GmbH & Co. S. 11-27.

Offizielle Website des Museums für die Politische Geschichte Russlands: Artikel zur Ausstellung „Die Menschen wollen es wissen“.

Karpenko, I., Tretiakova, M. (2020): Die Leningrader Blockade 1941-1944. Sankt Petersburg: Nestor-Istorija.