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Porträts von Blockadeüberlebenden. Teil 3

Porträts von Blockadeüberlebenden. Teil 3

Im Rahmen des journalistischen Freiwilligenprogramms des Projekts “Humanitäre Geste” verbringen Nachwuchsjournalist/-innen aus Deutschland bis zu drei Monate in Sankt Petersburg, um sich mit der Geschichte der Leningrader Blockade vertraut zu machen, Blockademuseen- und Gedenkstätten zu besuchen, die Veranstaltungen des drb zu dokumentieren und natürlich um mit Blockadeüberlebenden zu sprechen und ihre Geschichten zu erfahren. 

Als Ergebnis dieser Gespräche hat Robert Putzbach vier Zeitzeugenporträts verfasst, von denen wir das dritte heute veröffentlichen:

“Zu Beginn des Krieges war Valentina ein neunjähriges Mädchen. Sie ist in Leningrad geboren und hat die Blockade, das dunkelste Kapitel der Stadtgeschichte, persönlich miterlebt.

Valentina hat keine Geschwister und ging zum damaligen Zeitpunkt in die Schule. Ihre Mutter wurde zum Aufbau der Verteidigungsanlagen einberufen, ist von dort aber nicht zurückgekehrt. Weil ihr Vater in der Fabrik tätig war, musste er nicht an die Front. Er kümmerte sich also allein um seine Tochter. Valentina erinnert sich noch gut an die Bombenangriffe in der Stadt. Valentina sagt heute, dass diese ein besonderes Ziel hatten: Hitler wollte diese Stadt auslöschen – sie faktisch niederbrennen.

Als Valentinas Schule nicht mehr in Betrieb war, begleitete sie ihren Vater bis zur Fabrik und wartete dort, bis seine Schicht zu Ende war. Die öffentlichen Verkehrsmittel waren nicht mehr in Betrieb und so mussten sie jeden Morgen zu Fuß zur Fabrik laufen – und abends wieder zurück nach Hause. Irgendwann erlitt ihr Vater eine Verletzung, er hatte Wunden, die nicht richtig behandelt werden konnten. Es stand kein sauberes Wasser zur Verfügung und die Wunden entzündeten sich. Ihr Vater war irgendwann nicht mehr in der Lage, zur Arbeit zu gehen und blieb zu Hause liegen. Sein Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag.

Am 5. März 1942 kommt Valentina morgens in sein Zimmer, um ihn aufzuwecken. Doch sein Körper ist schon ganz kalt. „Wach auf!“, ruft das junge Mädchen noch verzweifelt, doch der Vater ist bereits in der Nacht verstorben.

Valentina steht nun allein da. Ohne Eltern, hilflos und verzweifelt. Doch eine Nachbarin findet das verstörte Mädchen auf und kümmert sich um sie. „Die Frau hat mich behandelt, als sei ich ein Teil der Familie“, sagt Valentina heute. Anstatt das hilflose Kind dem Schicksal zu überlassen, teilen sie das Wenige mit ihr, was sie haben: Brot und Suppe. Zur damaligen Zeit lag die Brotration teilweise bei gerade einmal 125 Gramm pro Tag. Die Nachbarsfrau hatte den Namen Nadeschda, die Hoffnung.

Valentina kam über die Runden und die Verwaltung beschloss die Evakuierung einer Gruppe Waisenkinder. Am 28. Juli 1942 wird die Gruppe mit 135 Kindern mit dem Schiff über den Ladogasee gebracht. An diesem Tag war der See stürmisch und rau, die Wellen schlugen hoch. Valentina erinnert sich noch gut an die unsichere, schaukelnde Überfahrt. Sie musste sich damals festhalten, um nicht umzufallen. Trotz Bombardierungen kam das Schiff mit den Kindern unbeschadet am anderen Ufer an.

An Land angekommen, ging es mit Güterzügen weiter. Die Kindergruppe war zehn Tage unterwegs, da die Waggons immer wieder anhalten mussten, um Züge mit Nachschub, die in Richtung Front unterwegs waren, durchzulassen. Von Nowosibirsk war die Gruppe dann noch einmal zehn Tage auf dem Schiff unterwegs – bis ins hinterste Sibirien. Dort angekommen wartete eine friedliche Umgebung auf die Kinder. Es war friedlich, keine Schüsse, kein Bombenalarm. Doch auch hier stellte sich die Frage, was die Kinder nun essen sollten, in der Umgebung wohnten praktisch keine Menschen. Bei allem musste daher improvisiert werden. Das Schuljahr, das traditionell am 1. September beginnt, fing im Jahr 1942 erst Wochen später an.

Und Valentina und den anderen Kindern wurde schnell klargemacht, wie lange dies ihr neues Zuhause sein sollte: „Bis zum Sieg bleiben wir hier!“, hieß es von den Betreuerinnen. Doch der Winter in der neuen Heimat war kälter als in Leningrad – bis zu minus 40 Grad kalt wurde es damals. Die Kinder halfen sich selbst: 13-jährige Mädchen nähten sich in der Werkstatt selbst Wintersachen. Das Neujahrsfest wurde dann erstmals ohne Eltern gefeiert, doch es wurde dafür gesorgt, dass es den Kindern nicht allzu sehr auffällt: Feste wurden organisiert und ein Tannenbaum bereitgestellt. Doch an die Kälte kann sich Valentina bis heute erinnern: Die kalten Hände! „Die waren so eisig, dass man dachte, man würde nie wieder fühlen können.“

Bis heute sind Valentina von der Zeit in Sibirien vor allem die Feste in Erinnerung geblieben. Zum Neujahrsfest 1944 haben sich die Kinder allesamt lustige Kostüme überlegt. Sie malten ihre Gesichter schwarz an und waren Schornsteinfeger. Ein Jahr später flog Valentina als Hexe mit einem Stock zwischen den Beinen um den Weihnachtsbaum. Die Kinder lachten damals laut und unbeschwert – der Krieg war irgendwo ganz weit weg.

Gegessen wurde in Sibirien alles, was der Wald zu bieten hatte. So gingen Valentina und die anderen los, um Beeren oder Pilze zu sammeln. Immer nur zwei Kinder gemeinsam, weil es im großen dunklen Wald so schwer war, sich zu orientieren.

Die drei Jahre im Exil beschreibt Valentina trotz der positiven Erinnerungen als harte Zeit. Die Kinder hatten keine Familie mehr und das provisorische Waisenhaus lag weit ab vom Schuss. Die nächste Stadt war so weit entfernt, dass die Kinder erst zwei Tage später, am 11.05.1945 vom Tag des Sieges erfuhren.

Valentina erinnert sich, wie ein Schiff auf dem Fluss vorbeifährt und der Kapitän den wartenden Kindern am Ufer etwas zuruft. Doch durch den starken Wind können sie ihn nicht verstehen. Dann wirft er eine Flasche ins Wasser, welche die Kinder herausfischen. Darin steckt ein Zettel auf dem nur ein Wort geschrieben steht: Pobeda – der Sieg!

Die Kinder jubelten. Denn auch wenn sie nicht genau wussten, was dies bedeutete, war klar, dass der Tag gekommen war, auf den sie die ganze Zeit gewartet hatten. Der Direktor des Waisenhauses fuhr daraufhin ins Zentrum, um die Rückkehr der Kinder zu organisieren. Der Teil der Kinder, bei denen keine Angehörigen gefunden werden konnten, wurde nach Tomsk geschickt. Die anderen wurden mit Zügen zurück nach Leningrad gebracht, wo sie von ihren Verwandten in Empfang genommen wurden.

Als Valentina am Bahnhof ankam, nahm ihre Tante sie in Empfang. Sie versprach ihr, dass sie jetzt nach Hause käme. Als sie in die Wohnung kommen, traut Valentina ihren Augen kaum. Vor ihr sitzt ihre Mutter. „Mama“, entfährt es ihr damals. Ihre Mutter hat sich in den Jahren verändert. So sehr, dass sie sie beinahe nicht erkannt hätte. Sie hatte nun graue Haare und war extrem abgemagert. Die deutschen Truppen hatten ihre Mutter gefangen genommen und in ein Lager gesteckt, erst beim Rückzug wurden die Gefangenen zurückgelassen.

Für Valentina ging es von nun an nur bergauf. Das war ihr damals auch direkt klar: „Denn wenn man eine Mutter hat, dann wird schon irgendwie alles gut werden.“

Valentina hat die schwere Zeit der Blockade überlebt und trotz der schwierigen Ausgangslage ihr eigenes Leben meistern können. Sie war vierzig Jahre in der Buchhaltung tätig und ist dann spät in Rente gegangen. Ihre Firma stellte Medaillen und Abzeichen her – die Technik hat Valentina immer sehr begeistert. Auch privat hat sie letztlich ihr Glück gefunden. Sie hat geheiratet und hat einen Sohn sowie mehrere Enkelkinder.”

Robert Putzbach, Teilnehmer des Freiwilligenprogramms für angehende Journalist/-innen