Porträts von Blockadeüberlebenden. Teil 1
Gespräche mit Überlebenden der Leningrader Blockade sind ein zentrales Element unserer Programme im Rahmen der “Humanitären Geste”. Ziel dieser Gespräche ist, einen generationen- und länderübergreifenden Dialog in Gang zu setzen, um so die unmittelbaren Erinnerungen an die Leningrader Blockade aufrecht zu erhalten und sie einem jungen deutschen Publikum näher zu bringen.
Einer unserer wichtigsten Partner ist dabei die Gemeinnützige regionale Organisation der Waisenhauskinder des belagerten Leningrad, deren Mitglieder gern an Treffen mit unseren deutschen Jugendgruppen und Freiwilligen teilnehmen.
Robert Putzbach, einer der Teilnehmenden unseres Programms für angehende Journalist/-innen, hat mit einigen Blockadeüberlebenden aus dieser Organisation gesprochen und deren Lebensgeschichte aufgezeichnet. Wir veröffentlichen heute das erste dieser Porträts:
“Wladimir wurde am 8. Dezember 1938 geboren. In seiner frühen Kindheit lebte er gemeinsam mit seiner Mutter in der Stadt Leningrad. Seine Mutter arbeitete, sie war im Postamt tätig. Sein Vater hingegen war Geologe und als Kartograf an einer Sibirienexpedition beteiligt. Von dort aus wurde er im Herbst 1941 an die Front geschickt, um zu kämpfen.
Während des ersten Blockadewinters im Januar 1942 brannte es in Wladimirs Wohnung, als er im Kindergarten war. Seine Mutter kam bei dem Feuer ums Leben. Möglicherweise wurde das Feuer durch einen kleinen Kanonenofen ausgelöst, der zur damaligen Zeit vielen Leningradern zum Heizen diente.
Also musste Wladimir bei Verwandten unterkommen, die damals ein Holzhaus bewohnten. Die Lebensmittelsituation war sehr kritisch. Allein im ersten Blockadewinter verloren sieben Familienmitglieder ihr Leben – unter anderem Wladimirs Großvater und seine Tante. Obwohl Wladimir damals noch jung war, haben sich die schrecklichen Erinnerungen an den Hunger bis heute eingebrannt. Was die Blockade für eine Stadt bedeutet und wie sie funktioniert, hat ihm damals jemand mithilfe von kleinen Holzsteinchen erklärt. Selbst kleine Kinder kamen früh mit der brutalen Wirklichkeit in Berührung.
Irgendwann brannte auch das Holzhaus aus und die Familie war zum Umzug genötigt. Wladimir kam mehrmals bei unterschiedlichen Verwandten unter. Seine frühe Kindheit war von ständigen Ortswechseln geprägt. Schließlich wurde er aus der belagerten Stadt evakuiert.
Die nächste scharfe Erinnerung hat er an den 9. Mai 1945, den Tag des Sieges. Wladimir erinnert sich, dass es ein sonniger Tag war.
Anschließend versicherte seine Tante in einem Brief, sie würde sich um ihn kümmern. Daher hatte er die Möglichkeit, nach Leningrad zurückzukehren. 1945 kam Wladimir dann in ein Waisenhaus mit integrierter Schule, der Umgang mit den anderen Waisenkindern war dort sehr schwierig. Wladimir sagt heute: „Es war hart, sich durchzusetzen und nicht von den älteren fertig gemacht zu werden.“ Die Spuren zu den damaligen Freunden verloren sich meist irgendwann, weil jeder an einem anderen Ort den Wehrdienst ableistete.
Mit vierzehn Jahren machte Wladimir schließlich eine Ausbildung zum Klempner. Damals wurde jede Arbeitskraft dringend benötigt. Er ist heute stolz darauf, am Wiederaufbau seiner Heimatstadt mitgewirkt zu haben. Später war er als Schlosser tätig. Er betont, einige Metrostationen habe er mit seinen eigenen Händen mitgebaut. Bis 1948 waren auch deutsche Kriegsgefangene am Wiederaufbau beteiligt, erinnert sich Wladimir.
Robert Putzbach, Teilnehmer des Freiwilligenprogramms für angehende Journalist/-innen
Wladimir hat geheiratet, sich scheiden lassen und wieder eine neue Frau gefunden. Heute hat er eine Tochter und ist mit seinem Leben sehr zufrieden. Seine Arbeit war ihm immer sehr wichtig, trotz Sonderrente mit 55 Jahren hat Wladimir noch zwanzig Jahre weitergearbeitet.”