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Natalia Sachnowskaja und Robert Gerbek: Ballett im belagerten Leningrad

Natalia Sachnowskaja und Robert Gerbek: Ballett im belagerten Leningrad

In unserem Artikel über das Mariinski-Theater haben wir die Namen einiger Balletttänzer erwähnt, die auch in der belagerten Stadt weiterhin ihrer Kunst dienten. Heute berichten wir über Natalia Sachnowskaja und Robert Gerbek: ein Ehepaar, das nicht nur im Alltag, sondern auch auf der Bühne zusammen war.

Robert Gerbek war Balletttänzer, Ballettmeister und Pädagoge. Nach dem Abschluss der Choreografieschule wurde er im Jahr 1930 am Kirow-Theater (heute das Mariinski-Theater) angenommen, wo er bis 1962 beschäftigt war. Zeitgleich wirkte er an Aufführungen auf anderen städtischen Bühnen mit. Natalia Sachnowskaja war Ballettkünstlerin und ging nach dem Abschluss der Leningrader Choreografieschule ebenfalls an das Kirow-Theater. Ab den 1930ern begann das Paar mit Konzertauftritten – später sollte man sie als „goldenes Duo“ bezeichnen.

Auch im belagerten Leningrad waren sie zusammen. Natalia Sachnowskaja führte zu jener Zeit Tagebuch, in dem sie den Alltag der Blockade beschrieb. Es ist auf der Website von „Proschito“ zu finden. Der erste Blockadewinter war für Robert Gerbek nicht leicht:

Robert verliert auf katastrophale Weise an Kraft: Im Sommer und Herbst war er so schwer krank, dass er sich nicht vollständig erholen konnte, bevor der Hunger begann. Und so kam der Tag, an dem er am Ende seiner Kräfte war; er kann nicht nur nicht mehr tanzen, sondern sich auch überhaupt nicht mehr bewegen. Mein Robert ist nun bettlägerig. Ich habe keinen liebenden Freund mehr um mich und auch keinen Partner mehr. Das Akademiemitglied Michail Dmitrijewitsch Tuschinski hat Robert zu sich ins Krankenhaus, auf seine Station geholt. Er unterstützt Robert, wo er nur kann: mit Medikamenten, außerdem hat er ihm sein restliches Traubenzuckerpulver und einen halben Becher Tee überlassen. Der gute Michail Dmitrijewitsch, ich bin ihm sehr dankbar dafür, dass er Roberts Leben rettet.

Winter 1941

Die Ballerina besuchte ihren Mann jeden Tag im Krankenhaus. Zum Frühjahr 1942 konnte Robert Gerbek sich erholen und das Krankenhaus verlassen.

Damals erfuhren sie, dass die Leitung des Kirow-Theaters damit begonnen hatte, die noch lebenden Künstler zusammenrief, um Konzertbrigaden zu bilden. Auf diese Weise wurde ein Opern- und Ballettkollektiv organisiert. Folgendes schrieb die Ballerina über das erste Konzert (nach der Pause):

Endlich kamen wir an – wie sich herausstellte, in einem Fuhrpark. Eine winzige Bühne in einem großen Zimmer. Unsere ersten Zuschauer waren Menschen in Militärmänteln und Wattejacken: Chauffeure, Helden, die viele Fahrten über den Ladoga machen.
Eine längst vergessene Aufregung – wie eine Rückkehr ins Leben! Doch werden wir tanzen können, werden unsere Kräfte reichen? Und werden die Zuschauer sich solche Dystrophiker ansehen? Wir haben uns sehr verändert, die Kostüme hängen an uns, wie an Kleiderbügeln. Ich muss lange Glacéhandschuhe anziehen und eine Pelerine um die Schultern legen. Auch mein gealtertes Gesicht würde ich gern bedecken … Bekannte Akkorde. Das Herz begann zu hämmern, unsicher stiegen wir die Stufen zu der kleinen Bühne hinauf. Die Beine können nur schwer mit der Musik mithalten. Nur wenige Bewegungen, doch wir haben schon fast keine Kraft mehr. Uns schwindelt, vor den Augen wird es schwarz, mehrere Male stolperten wir ordentlich, konnten uns kaum auf den Beinen halten. Zum Glück habe ich nur ein „Fliegengewicht“ und Robert Gerbek kann mich, wenn auch mit Mühe, hochheben. Wenn es doch schnell zu Ende wäre, wenn wir es bloß schaffen würden … Und welche Freude – Applaus, Applaus! Wir sind Künstler …
Nach dem Konzert konnte man uns nicht nach Hause bringen. Das Auto fuhr zum Treffpunkt am Theater zurück. Die Künstler stiegen unterwegs aus, je nachdem, wo sie es näher zu ihrem Haus hatten. Wir mussten noch ein ordentliches Stück zu Fuß gehen. Geschosse knallen, kein Mensch auf den Straßen, es ist bereits Sperrstunde. Doch wir Künstler haben Passierscheine erhalten, mit denen wir uns jederzeit draußen aufhalten können. Vollkommen erschöpft, können wir kaum die Beine bewegen und trotten mühsam vorwärts. Doch wir sind so glücklich, können uns selbst nicht glauben: Haben wir etwa wirklich getanzt?

Natalia Sachnowskaja und Robert Gerbek gehörten zu den ersten Künstlern, die sich an der Arbeit der Konzertbrigaden beteiligten und häufig auftraten, mitunter mehrmals am Tag und an verschiedenen Orten: auf Waldlichtungen, auf dem Deck von Kriegsschiffen, an der Frontlinie, auf Lkw-Ladeflächen oder im Saal der Leningrader Philharmonie.

Die Rückkehr zur artistischen Tätigkeit war für uns das höchste Glück. Vom allgemeinen Aufschwung erfasst, arbeiten wir mit großer Hingabe. Nutzen zu bringen, unseren Verteidigern und den Leningrader Vorkämpfern zu dienen –  das ist jetzt das dringendste moralische Bedürfnis. Ich habe noch wenig Kraft, bin außer Atem, mir wird schwarz vor Augen. Manchmal kann ich den Tanz nicht beenden, weil ich das Bewusstsein verliere. Doch in solchen Fällen bringen unsere Zuschauer großes Mitgefühl und Wärme zum Ausdruck. Ich hoffe, dass ich wieder zu Kräften kommen werde.

Die Menschen schrieben Briefe und berichteten von ihren Eindrücken. In ihrem Tagebuch erwähnt Natalia Sachnowskaja folgende Zeilen aus einem dieser Briefe:

Der Vorhang ging hoch und plötzlich sangen und tanzten auf der Bühne abgemagerte, klapprige und erbärmlich aussehende Künstler. Wir waren ihnen so dankbar und sehr gerührt, dass sie, die genauso elend dran waren wie wir, uns ablenkten und unterhielten. Wir vergaßen die bitteren Momente. Als wir uns in unsere kalten, dunklen Betten legten, ging es in unseren Gesprächen und Gedanken zum ersten Mal nicht ums Essen, sondern um unsere Eindrücke. Seitdem gehen wir oft ins Theater. Die Künstler helfen uns sehr, diese schwere Zeit zu überstehen, und wir werden euch immer mit Liebe und großem Respekt begegnen.

Die meisten Auftritte des Paares fanden während des Krieges statt, die Mehrheit davon in der belagerten Stadt. Es gab drei Solokonzerte. Das erste davon fand am 31. Oktober 1942 im Saal der Leningrader Philharmonie statt.
Natalia Sachnowskaja erinnerte sich, dass sie sich direkt auf den Treppenstufen schminken mussten. Im Laufe des furchtbaren Blockadewinters, als es keine Konzerte gegeben hatte, hatte die Verwaltung vergessen, dass die Künstler Zeit zur Vorbereitung brauchten, und deshalb den Saal erst eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung geöffnet. Doch das war nicht so wichtig. Wichtig war, mit welchem Gefühl sie auf die Bühne gingen:

Ich weiß nur noch, wie wir vor der schweren samtenen Portiere unserer geliebten Philharmonie standen, wie diese Portiere vor uns aufging und wir die beleuchtete Bühne betraten. Augenblicklich verschwanden Ängste und Sorgen und an ihre Stelle trat Freude, riesige Freude … Es schien, als hätten wir noch niemals mit solchem Vergnügen getanzt, noch niemals eine solch vollständige Hingabe gespürt. Die freundlichen Gesichter und der herzliche Empfang waren unsere Auszeichnung … Man bat uns, das Konzert zu wiederholen, doch der einsetzende Frost verhinderte das, denn der Saal konnte nicht beheizt werden. Erst im Jahr 1943 konnten wir unser Programm erneut in der Philharmonie und im Erholungsgarten zeigen.

Sie überlebten die Blockade und sahen das Feuerwerk am 27. Januar 1944.

30. Januar. Das Feuerwerk ist verklungen. Die Blockade ist aufgehoben. Wir Leningrader triumphierten. Die Stadt atmet auf, das friedvolle Leben erwacht … Unsere Theater werden repariert: das Kleine Operntheater und auch unser Kirow-Theater. Wir warten auf die Rückkehr der Theater aus der Evakuierung …

Auf der Website der D.-D.-Schostakowitsch-Philharmonie gibt es zu beiden Künstlern Seiten, die ihr über die unten aufgeführten Links finden könnt. Allerdings sind sie der Mehrheit der Leningrader als Paar in Erinnerung geblieben: als „goldenes Duo“ Sachnowskaja und Gerbek.


Quellen:
Artikel über Robert Gerbek auf der Website der Philharmonie
Artikel über Natalia Sachnowskaja auf der Website der Philharmonie
Tagebuch von Natalia Sachnowskaja auf der Website von „Proschito“