Lidia Ginsburg
Im Büro des Projektteams der „Humanitären Geste“ befindet sich eine kleine Bibliothek mit Büchern über die Blockade. Darunter sind auch die „Aufzeichnungen eines Blockademenschen“ auf Russisch sowie in deutscher Übersetzung. Unser heutiger Artikel berichtet über die Autorin dieses Buches.
Lidia Jakowlewna Ginsburg (1902-1990) war Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin, Memoirenschreiberin und habilitierte Philologin. Sie wurde in Odessa als Tochter eines Wissenschaftlers und Bakteriologen geboren. Ginsburg absolvierte das Institut für Kunstgeschichte in Leningrad.
In erster Linie ist sie als Autorin von Prosawerken bekannt, die in Richtung des Avantgardismus1 gehen.
Weithin bekannt sind ihre Monografien, Essays und Aufsätze über die russische Literatur an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert. Eine ihrer bekanntesten Arbeiten („Über die Lyrik“) umfasst die Geschichte der russischen Poesie von Schukowski und Puschkin bis hin zu Blok und Mandelstam. Darin untersucht sie die dichterischen Methoden, die Ausdrucksweisen des poetischen Gedankens sowie die Erscheinungsformen der Absichten und der Persönlichkeit des Autors. Ginsburg selbst hielt dieses Buch für ihre erste erfolgreiche Arbeit als Schriftstellerin.
Während der Blockade blieb Ginsburg im belagerten Leningrad. Sie arbeitete als festangestellte Redakteurin im städtischen Rundfunkkomitee. Weltweite Bekanntheit erlangte sie durch die „Aufzeichnungen eines Blockademenschen“, die in über fünf Sprachen übersetzt wurden. Dabei handelt es sich weniger um persönliche Erinnerungen oder eine Chronik der historischen Ereignisse als vielmehr um eine Analyse der Persönlichkeit und des Verhaltens in Krisensituationen sowie die Präsentation des Bildes eines „Blockademenschen“. Der Text beginnt wie folgt:
Während der Kriegsjahre lasen die Menschen gierig Krieg und Frieden, um sich zu überprüfen (und nicht Tolstoi, an dessen adäquater Darstellung des Lebens niemand zweifelte). Und wer las, sagte sich: „Aha, das empfinde ich also richtig. Das ist also so.“ Wer die Kraft zum Lesen hatte, las im Leningrad der Blockadezeit gierig Krieg und Frieden.
Ginsburg, L. (2014): Aufzeichnungen eines Blockademenschen. Berlin: Suhrkamp. S. 83.
Tolstoi hatte ein für allemal Gültiges über die Tapferkeit gesagt, über den Menschen, der an der gemeinsamen Sache eines Volkskriegs teilnimmt. Er hatte auch davon gesprochen, dass die von der gemeinsamen Sache Erfassten sie sogar dann noch unbewusst fortführen, wenn sie scheinbar nur mit der Bewältigung ihrer persönlichen Lebensprobleme beschäftigt sind. Die Menschen im belagerten Leningrad arbeiteten (solange sie konnten) und retteten, falls sie das konnten, sich selbst und ihre Angehörigen vor dem Hungertod.
Und letztlich nutzte das auch der Sache des Krieges, denn dem Feind zum Trotz lebte die Stadt, die der Feind vernichten wollte.
Davon wird hier manches erzählt.
Es schien mir erforderlich, nicht nur das allgemeine Leben darzustellen, sondern auch das Blockadesein eines Menschen. Dieser Mensch ist Summe und Einzelner (deshalb heißt er N.); er ist Intellektueller und lebt unter besonderen Umständen.
Erstmals wurde dieses Werk 1984 in der Zeitschrift „Newa“ gedruckt. Fünf Jahre später wurde der Text zusammen mit der Abhandlung „Aus dem Umkreis der Aufzeichnungen eines Blockademenschen“ in dem Buch „Der Mensch am Schreibtisch“ veröffentlicht.
Eine deutsche Übersetzung entstand im Jahr 1997. Sie erlangte jedoch kaum Bekanntheit, im Unterschied zur neuen Übersetzung, die 2014 erschien.
Viele Texte Ginsburgs sind nach wie vor unveröffentlicht, darunter auch solche, die thematisch mit der Geschichte der Blockade verbunden sind. Dazu gehören das Notizbuch „1943“ sowie das Heft „Wort“. Letzteres umfasst Aufzeichnungen von Gesprächen mit Menschen, die während der Blockade zum Bekanntenkreis der Schriftstellerin gehörten, Gedanken über deren Schicksale sowie eine Beschreibung des literarischen Ambientes im Leningrad der Nachkriegszeit.
Ein Teil des Notizbuchs „1943“ wurde für den Druck vorbereitet.
Lidia Jakowlewna Ginsburg gilt zu Recht als eine der größten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts.
1 Avantgardismus: Gesamtheit der Bewegungen in Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts. Hauptsächliche Charakteristika: Bruch mit der künstlerischen Tradition, Streben nach Experimenten zur Schaffung neuer kreativer Formen (Quelle: Große Russische Enzyklopädie 2004-2017)
Quellen:
Ginsburg, L.J. (2018): Aufzeichnungen eines Blockademenschen. Moskau: Verlag „E“.
Ginsburg, L.J. (2011): Vorübergehende Charaktere: Prosa der Kriegsjahre. Aufzeichnungen eines Blockademenschen. M.: Neuer Verlag.