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Leningrader Deutsche zur Zeit der Blockade

Leningrader Deutsche zur Zeit der Blockade.

Im Rahmen des Zeitzeugenprogramms beschäftigen sich die Teilnehmenden des journalistischen Freiwilligendienstes mit der Geschichte der Leningrader Blockade. Dabei besuchen sie die Veranstaltungen zum Thema Blockade, die im Rahmen der „Humanitären Geste“ organisiert werden, und leisten einen großen Beitrag zur medialen Aufbereitung der Programme.

Dieser Text wurde von Robert Putzbach ehrenamtlich geschrieben. 

Am 16.11.2019 fand in der Aula der 636. Schule eine Veranstaltung mit dem Titel „Leningrader Deutsche. Schicksale der Kriegsgenerationen“ statt. Auf Einladung des Deutsch-Russischen Begegnungszentrums (drb) hielt Dr. phil. habil. Irina Tscherkasjanowa einen Vortrag über das Schicksal der zahlreichen Deutschen, die zur Zeit der Blockade im Leningrader Gebiet lebten. Die Veranstaltung richtete sich an unterschiedliche Freiwilligengruppen, die sich im Rahmen des Projekts „Humanitäre Geste“ mit der Leningrader Blockade beschäftigen.

Nach einigen einleitenden Worten durch die Stiftungsleiterin Arina Nemkowa und einem Grußwort des Schuldirektors Pjotr Iljin erhält die Historikerin Irina Tscherkasjanova das Wort. Sie hat sich in ihrer Forschung intensiv mit der Geschichte der Russlanddeutschen auseinandergesetzt. Für ihr Buch „Leningrader Deutsche. Schicksale der Kriegsgenerationen“ und begleitende Podiumsdiskussionen wurde sie im Jahre 2013 mit dem Georg Dehio-Kulturpreis ausgezeichnet.

Sie leitet ihren Vortrag mit dem Verweis auf die Städte Leningrad, Hiroshima und Dresden ein, welche bis heute den Schrecken des Krieges symbolisieren.

Die Geschichte der deutschen Bevölkerung spielt eine entscheidende Rolle in der Geschichte der Stadt Leningrad. Seit der Gründung der Stadt im 18. Jahrhundert lebten zahlreiche Deutsche in der Stadt und prägten das wissenschaftliche und kulturelle Leben. Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden nach Einladung durch Katharina die Große auch im Umland zahlreiche deutsche Kolonien. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges lebten etwas über 30.000 Deutsche in Leningrad und den umliegenden Gebieten. Zu den größten Kolonien der damaligen Zeit zählen Nowosaratowka und die Kolonie Kolpino unweit der gleichnamigen Stadt. 

In den frühen 1930er Jahren änderte sich das Leben der Kolonisten, die Landwirtschaft wurde von nun an in Kolchosen organisiert. Auch die sogenannten „Nationalen Schulen“, an denen Unterricht in deutscher Sprache stattfand, wurden geschlossen und stattdessen auf Russisch unterrichtet. Weiterhin wurden die Kirchen geschlossen und Geistliche verhaftet.
Der Beginn des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1939 hatte weitere Auswirkungen auf die Situation der deutschen Bevölkerung. Es kam im Jahre 1940 erstmals zu „Präventionssäuberungen“ bestimmter Volksgruppen – vorwiegend in den Grenzgebieten.
Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 beginnt in der russischen Geschichtsschreibung der „Große Vaterländische Krieg“. Schnell wurde auch das Leningrader Gebiet zum Kriegsschauplatz, als sich die Kampfhandlungen bis ins unmittelbare Umfeld der Stadt ausweiteten. Die Zivilbevölkerung wurde für den Ausbau der Verteidigungsanlagen mobilisiert – darunter auch die deutschen Kolonisten. 

Währenddessen verabschiedete die Stalin-Regierung bereits im August 1941 einen Erlass, der über das Schicksal der Wolga-Deutschen entscheiden sollte. Alle Wolga-Deutschen sollten nach Sibirien und Kasachstan ausgewiesen werden, da man sie der Spionage verdächtigte. Dieser Erlass wird später auf alle ethnischen Deutschen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ausgeweitet. So kommt es in den Jahren 1941 und 1942 zur Ausweisung von insgesamt 1,2 Millionen Menschen. 

Im Leningrader Gebiet sah eine Geheimverordnung die massenhafte Ausweisung von Deutschen und Finnen vor. Viele flohen ostwärts vor der näherkommenden Frontlinie und wurden dennoch in die Archangelsk-Region deportiert. 

Nach der Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Schlüsselburg war Leningrad ab dem 8. September 1941 vollständig blockiert. Innerhalb der belagerten Stadt lebten zu dieser Zeit noch zahlreiche Deutsche, deren Erinnerungen mithilfe von historischen Tagebucheinträgen rekonstruiert werden können. Ihr Leid und die Erlebnisse unterscheiden sich wenig von dem Schicksal der russischen Leningrader Bevölkerung.

Schüler der 636. Schule lesen im Folgenden aus den Tagebüchern verschiedener Kinder aus deutschen Familien vor, die sich zur Zeit der Blockade in der belagerten Stadt befanden. Es handelt sich dabei um die überlieferten Erinnerungen von Kindern, die zum damaligen Zeitpunkt in etwa im selben Alter waren wie die Schüler, welche im Unterricht das Vortragen der Tagebucheinträge geprobt haben.

Die Notizen der Blockadekinder erzählen hauptsächlich vom Beschuss, dem Hunger und der schrecklichen Kälte während des ersten Blockadewinters. Allerdings geben die Erinnerungen auch Aufschluss über das eigene Identitätsverständnis und die Beziehung zu Hitler-Deutschland:
„Ja, es geht wieder bergauf! Jeden Tag kommen unsere Truppen an der West- und Südwestfront voran. Unsere Armee hat schon Tichwin und Elets zurückerobert, die Faschisten werden von uns noch was abbekommen! Bald werden sie aus Leningrad weglaufen! Der verdammte Feind wird uns nicht mehr lange quälen!“
(Aus einem Tagebucheintrag von Viktor Schäfer)

In den Tagebüchern ist auch oft die Rede von den aktuellen Ereignissen an der Front, über welche sich die Leningrader stets informiert haben. An der Front gegen die Wehrmacht kämpften damals auch Deutsche, die zu Beginn des Krieges in die Rote Armee einberufen wurden oder sich freiwillig gemeldet haben. Mit der Deportation der Zivilbevölkerung begann man sie aus der Armee abzuziehen – trotz drohender Niederlage. Zu den „verdächtigen Personen“ zählten nicht nur Deutsche, sondern auch Finnen, Letten und Litauer.

Nach dem Ausschluss aus der Armee wurden sie zu den ersten „Trudarmisten“ in der Arbeitsarmee. Sie müssen dort körperliche besonders schwere Arbeit verrichten und werden einer konstanten Überwachung ausgesetzt. Nach dem ersten Blockadewinter tritt die Deportation von sogenannten „verdächtigen, unzuverlässigen Personen“ aus dem Blockade-Ring wieder auf die Tagesordnung.

Die deutschen Kolonisten wurden auf Grundlage des Kriegsgerichts der Leningrader Front im März 1942 über die Straße des Lebens evakuiert. Sobald allerdings das rettende Ufer bei Kobona erreicht wurde, ereilte die Deutschen ein anderes Schicksal als die anderen Evakuierten. Auf sie warteten bereits Güterzüge, die für die Weiterfahrt nach Sibirien bereitstanden. Die Züge wurden von Militärkonvois begleitet. 

Am 24. März 1942 begann die Massendeportation der Deutschen und Finnen. Insgesamt wurden schätzungsweise 60.000 Menschen bis zum Oktober 1942 aus Leningrad ausgewiesen.

Irina Tscherkasjanowa verdeutlicht daraufhin anhand einer persönlichen Anekdote von einer Konferenz, dass die Deportation der Leningrader Deutschen bis heute oft fälschlicherweise als „Rettung“ bezeichnet wird. Auch wenn die Menschen aus der belagerten Stadt entkommen konnten, waren sie daraufhin nicht frei. In der anschließenden Verbannung in Sibirien waren sie nicht in der Lage, ihren eigenen Wohnort zu wählen oder sich in der Umgebung frei zu bewegen.

Die Dokumente zeugen von einem gewissen Gleichmut der Leningrader Bevölkerung gegenüber dem Schicksal der Deutschen. Bei der Aussiedlung aus Oranienburg fühlte sich die russische Bevölkerung benachteiligt und wollte ebenfalls „gerettet“ werden. Daraus geht jedoch auch hervor, dass ein Teil der Bevölkerung nicht über die bevorstehende Deportation Bescheid wusste.

Weiterhin kam es noch zu einer massenhaften Verschleppung von sogenannten „Volksdeutschen“ nach Deutschland. Dort galten sie meist als Menschen zweiter Klasse, die sogenannten „Reichsdeutschen“ (im deutschen Reich geboren) waren stets bessergestellt.

Bei der Jalta-Konferenz wurde der Beschluss gefasst, die verschleppte Zivilbevölkerung in ihre Heimatländer zurückzubringen. Ab Mai 1945 begann die Repatriierung, die Heimrückkehr. Auch die Leningrader Deutschen sollten nun zurück in ihr Heimatland, die Sowjetunion, kommen. Dort angekommen wurden sie oft zu Zwangsarbeit verurteilt und mussten in sogenannten Sondersiedlungen leben. 

Erst im Jahre 1972 war es ihnen erlaubt, an ihre ursprünglichen Wohnorte zurückzukehren. Heutzutage geht man davon aus, dass die Kolchosenbetreiber in Kasachstan und Sibirien den Prozess bewusst verzögert haben, um weiterhin vom Fleiß und der gewissenhaften Tätigkeit der deutschen Arbeiter zu profitieren.

Irina Tscherkasjanowa beendet ihren Vortrag, indem sie noch einmal Bezug auf die Erinnerung an die deutsche Geschichte Leningrads nimmt. Ihrer Meinung nach ist es bemerkenswert, dass trotz der langen deutschen Geschichte der Region, bis heutige nur weniges daran erinnert. Derzeit leben nur noch gut 3.000 Deutsche in der Stadt. Es gibt nahezu keine Denkmäler oder Museen; noch erhaltene Gebäude werden kompromisslos abgerissen, um dort Datschas zu errichten. Mit ihrem Vortrag möchte sie nicht nur an die schreckliche Zeit der Blockade erinnern, sondern auch dazu beitragen, dass die positive Erinnerung an die deutsche Geschichte von Sankt Petersburg nicht verblasst.
Im Anschluss daran haben die Zuschauer die Möglichkeit, persönliche Fragen an die Historikerin zu stellen.

Frau Archiptschenko aus der Kolonie Strelna fragt, wo es Informationen über die Geschichte der Russlanddeutschen außerhalb des Deutsch-Russischen Begegnungszentrums gibt: insbesondere über das Schicksal der Leningrader Deutsche.
Irina Tscherkasjanowa verweist auf die zahlreichen Forschungen und Bücher, die vor allem innerhalb der letzten zehn Jahre entstanden sind. Es gebe jedoch mittlerweile zahlreiche Konferenzen und Ausstellungen zu der Thematik. Sie merkt jedoch an, dass es durchaus fragwürdig ist, inwieweit solche Informationen von der breiten Masse der Bevölkerung rezipiert werden.

Im Anschluss daran spricht Margarita Schulmeister, welche die damaligen Ereignisse selbst miterlebt hat. Sie war damals mit nur 16 Jahren selbst Teil der Trudarmee und musste dort Holz fällen. Sie verdeutlicht das dramatische Schicksal der Russlanddeutschen und erzählt von Familienangehörigen, die dem großen Terror zum Opfer fielen. Auch sie nimmt Bezug zur Gegenwart und beklagt sich über die Wahrnehmung von Russlanddeutschen in der deutschen Gesellschaft. Nur weil diese die deutsche Sprache teilweise nicht mehr beherrschen, wird ihnen das Recht auf die Rückkehr abgesprochen und sie würden oft mit Skepsis beäugt. Laut Margerita Schulmeister haben sich die Skeptiker nicht ausreichend mit dem Schicksal der Russlanddeutschen beschäftigt, um zu erkennen, dass es ihnen oft unmöglich war, die eigene Muttersprache zu bewahren. Wer Deutsch sprach, musste damit rechnen, geschlagen oder bespuckt zu werden. Das Thema geht ihr bis heute sehr nahe.

Arina Nemkowa bedankt sich bei Irina Tscherkasjanowa für den heutigen Vortrag und für all das, was sie bereits für die deutsch-russischen Beziehungen getan hat. Im Anschluss werden noch Blumen und Urkunden an die Vortragenden, Organisatoren und die Schüler überreicht. Frau Nemkowa betont, dass sie die Zusammenarbeit mit der Schule in diesem Format gerne fortsetzen würde und bedankt sich bei den Teilnehmern für das Interesse. Damit endet die Veranstaltung zu einem interessanten Thema, welches bis vor kurzer Zeit noch ein blinder Fleck in der Forschung zur Sankt Petersburger Geschichte war.