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Dreharbeiten: Videoporträts von Petersburger Blockadegesellschaften

Dreharbeiten: Videoporträts von Petersburger Blockadegesellschaften

Offiziellen Statistiken zufolge lebten Anfang 2020 in Sankt Petersburg 73 200 Menschen, die mit der Auszeichnung “Einwohner des belagerten Leningrad” geehrt wurden. Diese Messingmedaille erhalten die Menschen, die mindestens vier Monate in der belagerten Stadt gelebt haben. Daneben gibt es die Medaille “Für die Verteidigung von Leningrad”, mit der nicht nur diejenigen ausgezeichnet wurden, die an vorderster Front kämpften, sondern auch die Zivilisten, die in der belagerten Stadt kämpften, darunter 15 000 Kinder und Jugendliche. Im Januar 2020 gab es in Petersburg noch 4 100 Inhaber/-innen dieser Medaille.

Viele dieser insgesamt knapp 77 000 Überlebenden der Blockade sind Mitglieder sogenannter Blockadegesellschaften. Dabei handelt es sich um gemeinnützige Organisationen, die von den Blokadniki selbst gegründet wurden und zumeist thematisch ausgerichtet sind. Zu den bekanntesten dieser Gesellschaften zählen die Organisationen “Einwohner des belagerten Leningrad”, “Leningrader Verband Kinder der Blockade 900” und “Waisenhauskinder des belagerten Leningrad”. 

Die Organisationen erfüllen eine wichtige Aufgabe: Sie ermöglichen es den Überlebenden der Blockade, sich mit Menschen auszutauschen, die ein ähnliches Schicksal wie sie selbst erlitten haben. Zudem organisieren die Blockadegesellschaften für ihre Mitglieder vielfältige Veranstaltungen: Exkursionen, Vorträge, gemeinsame Feiern und andere. Auf diese Weise motivieren sie die Blokadniki dazu, auch im fortgeschrittenen Alter am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Um die Aktivitäten der Blockadegesellschaften zu dokumentieren und ihre Geschichte auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, dreht das Projektteam der “Humanitären Geste” in diesem Winter fünf kurze Videoporträts. Heute berichten wir über die Dreharbeiten zu den ersten beiden:

An einem regnerischen Novembermorgen treffen wir uns auf der Wassili-Insel im Zentrum Sankt Petersburgs. Wir haben uns zum Interview mit Valentina Anatoljewna Korobowa verabredet, der Vorsitzenden des Klubs “Raduschije” (dt. “Herzliches Entgegenkommen”). Der Klub kommt seit mehr als einem Vierteljahrhundert regelmäßig in den Räumlichkeiten des Deutsch-Russischen Begegnungszentrums (drb) zusammen und vereint deutschstämmige Blockadeüberlebende, Opfer politischer Repressalien und Kinder des Krieges.

Frau Korobowa (geb. 1935) selbst erlebte die Blockade als Kind. Im Interview berichtet sie davon, wie sie in den neunziger Jahren plötzlich begann, sich für die Geschichte ihrer deutschen Vorfahren zu interessieren – und dabei am drb auf Gleichgesinnte stieß. Diese Menschen verband nicht nur ihre deutsche Herkunft oder die Erfahrung ihrer Kindheit in der schweren Kriegszeit, sondern auch (und vielleicht sogar vor allem) das Verlangen, ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen und gemeinsam ihre Freizeit aktiv zu gestalten. Dies war die Geburtsstunde von “Raduschije”. Seitdem haben die Mitglieder des Klubs eine schier unglaubliche Arbeit geleistet: Sie haben zahlreiche Bücher herausgegeben – zunächst mit ihren Erinnerungen an die Blockade- und Kriegszeit, später auch zur Geschichte der Deutschen in Sankt Petersburg. Sie haben eine Arbeitsgemeinschaft gegründet, in der Senior/-innen die Möglichkeit haben, eigene Filmprojekte zu realisieren (und mit ihren Produkten an einem vom Klub organisierten Filmfestival für Laienregisseure teilzunehmen). Auch in einer weiteren Arbeitsgemeinschaft konnten die Mitglieder des Klubs ihrer Kreativität freien Lauf lassen: beim Aquarellmalen, angeleitet von einer professionellen Künstlerin (die Ergebnisse dieser Arbeit wurden natürlich ebenfalls in Buchform veröffentlicht). Daneben organisiert der Klub regelmäßig Exkursionen und Programme zu historischen und kulturellen Themenbereichen. Wir – zwei Mitarbeiterinnen des Teams “Humanitäre Geste” und unser Kameramann – lauschten der Erzählung buchstäblich mit offenen Mündern, tief beeindruckt von der Energie und Schaffenskraft der Seniorinnen und Senioren. Zusammen mit uns hat sich noch ein weiterer aufmerksamer Zuhörer eingefunden: Frau Korobowas 14-jähriger Langhaarkater Boss.

Unser zweites Interview führt uns an einem nun schon winterlichen Dezembermorgen in die Puschkinstraße 5, nicht weit vom Obelisken “Für die Heldenstadt Leningrad”. Hier befindet sich der Sitz der Organisation der “Waisenhauskinder des belagerten Leningrad”. Die Räumlichkeiten werden gerade renoviert, viele Möbel sind beiseite geschoben. Glücklicherweise haben wir dennoch die Möglichkeit, hier zu drehen. Dieses Mal heißt unsere Interviewpartnerin Nina Wladimirowna Fadejewa. Sie hat bereits seit 30 Jahren den Vorsitz der Organisation inne und kennt ihre Geschichte besser als jeder andere. Die Organisation wurde 1956 von ehemaligen Waisenhauskindern gegründet und leistet bis heute einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag: Die Mitglieder der Organisation besuchen Schulen und Kinderheime, um den jungen Petersburger/-innen von ihrem Schicksal während der Blockade zu berichten und so die Erinnerung an dieses dunkle Kapitel in der Stadtgeschichte aufrechtzuerhalten. Auch die “Waisenhauskinder des belagerten Leningrad” bieten ihren Blokadniki vielzählige Aktivitäten – von der Teilnahme an Gedenkveranstaltungen zur Leningrader Blockade über gemeinsame Feiern bis hin zu Exkursionen innerhalb und außerhalb von Sankt Petersburg.

Es versteht sich von selbst, dass die meisten Mitglieder der Organisation auch heute ein außerordentlich aktives Leben führen. Eines dieser aktiven Mitglieder ist unser dritter Interviewpartner, Stanislaw Witaljewitsch Mikoni. Wir treffen ihn am Nachmittag desselben Tages in seiner Wohnung im Norden von Sankt Petersburg. Trotz seiner inzwischen 84 Jahre ist Herr Mikoni noch immer als Wissenschaftler und Informatiker in leitender Position tätig. Seit 1995 ist er Mitglied der Organisation der “Waisenhauskinder des belagerten Leningrad”, die ihm die Möglichkeit bietet, Kontakt zu seinen Altersgenossen zu halten, die in ihrer Kindheit ähnliches durchgemacht haben wie er selbst. Im Interview betont er aber auch die wichtige Rolle der Begegnung mit Jugendlichen – sowohl mit russischen als auch mit deutschen -, um ihnen von der Grausamkeit des Krieges zu berichten und ihnen den Impuls zum friedlichen Handeln zu geben. Ein besonders bewegender Moment für uns ist, als Herr Mikoni, der seit vielen Jahren Gedichte schreibt, eines seiner Werke vorträgt, das der Erinnerung an die Blockade gewidmet ist.

Diese beiden sowie drei weitere Filme erscheinen im Februar 2021 auf unserer Website https://drb-ja.com: auf Russisch, mit deutschen Untertiteln.


Quellen:

https://www.gov.spb.ru/helper/social/soc_vet/informacionnaya-spravka-ko-dnyu-polnogo-osvobozhdeniya-leningrada-ot-f/

https://www.gov.spb.ru/helper/social/soc_vet/komitet/