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Die Geschichte des 9. Mai in Russland

Die Geschichte des 9. Mai in Russland

Der 9. Mai ist einer der wichtigsten Feiertage in Russland. In diesem Jahr feiern wir den 75. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. Die Museologin und Historikerin Natalja Jansson berichtet in diesem Artikel über die Geschichte des Feiertags und die Entstehung der mit ihm verbundenen Traditionen.

“Einer der wichtigsten Feiertage für die Russinnen und Russen sowie für die Bewohner/-innen der früheren Sowjetrepubliken ist der Tag des Sieges. Am 9. Mai gehen in hunderten Städten die Bewohner/-innen auf die Straße, um das Gedenken an diejenigen zu ehren, die in diesem schrecklichsten aller Kriege ums Leben gekommen sind. Dieser Tag wird mit einem kolossalen Schauspiel gefeiert: mit einer feierlichen Parade, bei der Militärtechnik gezeigt wird, einer Kranzniederlegung am Grabmal des Unbekannten Soldaten, einem Umzug des “Unsterblichen Regiments”, der Verteilung von Georgsbändern, mit Frontliedern, von denen “Tag des Sieges” mit der Musik von David Tuchmanow und dem Text von Wladimir Charitonow das wichtigste ist, und natürlich mit einem festlichen Feuerwerk. Allerdings wurde dieser Tag nicht immer so prachtvoll gefeiert – viele Traditionen sind sogar erst im 21. Jahrhundert und damit verhältnismäßig spät entstanden.

Der 9. Mai 1945

Am 7. Mai wurde in Reims die bedingungslose Kapitulation Deutschlands unterzeichnet, die am 8. Mai um 23:01 Uhr (nach Moskauer Zeit am 9. Mai um 01:01 Uhr) in Kraft trat.

Eingeführt wurden die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai durch einen Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 8. Mai 1945, der diesen Tag als arbeitsfrei festlegte. Die erste Feierlichkeit, die am 9. Mai 1945 stattfand, wurde mit einem grandiosen Salut abgeschlossen. Sie prägte sich für lange Zeit in das Gedächtnis der sowjetischen Bevölkerung ein.

Den finalen Akkord der Feierlichkeiten zum Sieg über Nazi-Deutschland bildete die Siegesparade, die am 24. Juni 1945 auf dem Roten Platz in Moskau stattfand. Sie wurde von Konstantin Rokossowski, Marschall der Sowjetunion, kommandiert und von Georgi Schukow, dem stellvertretenden Oberbefehlshaber und Marschall der Sowjetunion, abgenommen. Zur Teilnahme an der Parade wurden zwölf Regimenter zusammengestellt: zehn von allen zum Ende des Krieges aktiven Fronten, eins von der Marine und eins aus dem Volkskommissariat1 für Verteidigung. Jedes Regiment zählte mehr als 1000 Personen: Helden der Sowjetunion, Träger des Ruhmesordens und andere Militärangehörige, die sich in den Kämpfen besonders ausgezeichnet hatten. Vor jedem Regiment marschierten die Kommandierenden der Fronten und Armeen. Neben diesen zwölf Regimentern waren ein gemischtes Regiment aus Trommlern, Teile der Moskauer Garnison, ein Orchester aus 1400 Musikern und etwa 1850 militärtechnische Geräte an der Parade beteiligt. Wegen des ungünstigen Wetters wurde der in der Luft geplante Teil der Parade abgesagt. Am Ende der Parade wurden am Sockel des Lenin-Mausoleums2 200 Fahnen der besiegten Wehrmacht abgeworfen.

Der Feiertag des Sieges in der UdSSR

Die prachtvolle Feier des Sieges im Jahr 1945 wurde nicht sofort zur alljährlichen Tradition. Von 1945 bis 1947 war der Tag des Sieges arbeitsfrei. Durch einen Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 23. Dezember 1947 wurde der freie Tag jedoch abgeschafft: Stattdessen wurde der Neujahrstag für arbeitsfrei erklärt.3

Die heutige üblichen Attribute des Feiertags entstanden nicht innerhalb eines Tages. Im Laufe der ersten 20 Jahre nach dem Krieg beschränkten sich die Festveranstaltungen im Wesentlichen auf einen Salut. Ungeachtet der Tatsache, dass es keinen offiziellen Feiertag gab, beging das ganze Land – gemeinsam mit den Veteranen des vorigen Krieges – dennoch den Tag des Sieges.

Von 1946 bis 1964 liefen die Feierlichkeiten nach einem einheitlichen “Schema” ab: In den wichtigsten Zeitungen erschienen feierliche Leitartikel, es wurden festliche Abendveranstaltungen durchgeführt und in den größten Städten der UdSSR wurden Saluts aus 30 Artilleriesalven abgegeben. Auch das erste Jubiläum des Sieges, der 9. Mai 1955, war ein gewöhnlicher Arbeitstag ohne Militärparade, auch wenn in einigen Städten des Landes feierliche Zusammenkünfte veranstaltet wurden. Zu erwähnen sind auch die Konzerte und Volksfeste auf Plätzen und in Parks. Außerdem erklangen in Moskau, den Hauptstädten der Republiken und den Heldenstädten die traditionellen Salute.

Erst zum 20. Jubiläum der Niederlage Nazi-Deutschlands wurde der Tag der Sieges zum zweitwichtigsten nationalen Feiertag (nach dem Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution). Leonid Breschnew, das Staatsoberhaupt der UdSSR, brachte drei wesentliche Korrekturen in das Ritual des 9. Mai ein, die auch heute eine Fortsetzung finden:

es fanden eine Militärparade auf dem Roten Platz und ein Empfang im Kremlpalast statt;

der Tag des Sieges wurde erneut zum arbeitsfreien Tag erklärt;

am Tag des Sieges 1967 eröffnete Breschnew persönlich das Grabmal des Unbekannten Soldaten.

Seitdem steigerte sich das Ausmaß der Festlichkeiten. Die Jubiläumsveranstaltungen am 9. Mai 1975 umfassten eine Parade auf dem Roten Platz und Kranzniederlegungen am Lenin-Mausoleum sowie am Grabmal des Unbekannten Soldaten, eine feierliche Demonstration der Moskauer Jugend auf dem Roten Platz, ein Festempfang, eine Schweigeminute und einen feierlichen Salut.

Außerdem begann man in den 60er Jahren in vielen Städten der UdSSR eigene Militärparaden zum 9. Mai durchzuführen. An diesem Tag veranstalteten Truppenteile und Militärhochschulen einen Marsch durch die Stadt zu den Kriegsdenkmälern und den Gedenkstätten für die gefallenen Krieger, wo Kundgebungen stattfanden und Blumen niedergelegt wurden.

Die Siegesfeiern im modernen Russland

Nach dem Zerfall der UdSSR wurden bis zum Jubiläumsjahr 1995 auf dem Roten Platz keine Militärparaden anlässlich des 9. Mai abgehalten. Damals fanden in Moskau zwei Paraden statt: auf dem Roten Platz (mit Infanterieverbänden) und auf dem Poklonnaja-Hügel (unter Teilnahme von Truppen und Militärtechnik).

Seitdem werden die Paraden auf dem Roten Platz alljährlich durchgeführt, in der ersten Zeit allerdings ohne Militärtechnik. Seit 2008 wird die Parade wieder unter Einbeziehung von Militärtechnik veranstaltet, darunter auch der Luftstreitkräfte.

Entstehung der Traditionen zum Feiertag

Der Salut

Die Tradition, große Siege der sowjetischen Armee durch Artilleriesalute zu würdigen, entstand im Jahr 1943. Nach Aussagen von Zeitgenossen stammte diese Idee von Oberbefehlshaber Josef Stalin.

Der erste Artilleriesalut fand am 5. August 1943 in Moskau anlässlich der Befreiung der Städte Orjol und Belgorod durch die sowjetischen Truppen statt. In der Folgezeit wurden drei Kategorien von Saluten festgelegt – abhängig vom Ausmaß der militärischen Erfolge:

Kategorie I (24 Salven aus 324 Geschützen): zum Anlass von besonders herausragenden Ereignissen wie der Befreiung von Hauptstädten der Republiken der UdSSR und ausländischen Staaten, der Erreichung von Staatsgrenzen oder der Beendigung des Krieges mit Verbündeten Deutschlands. Der erste dieser Salute fand nach der Befreiung Kiews am 6. November 1943 statt, der letzte am 3. September 1945 zu Ehren des Sieges über Japan. Insgesamt wurden von 1943 bis 1945 26 Salute der Kategorie I abgegeben.

Kategorie II (20 Salven aus 224 Geschützen): zu Ehren “großer Ereignisse” wie der Befreiung großer Städte, der Vollendung von großen Operationen oder der Einnahme der größten Flüsse. Während des Großen Vaterländischen Kriegs wurden 206 solcher Salute abgegeben. Der erste wurde am 23. August 1943 zu Ehren der Befreiung Charkiws veranstaltet, der letzte am 8. Mai 1945 anlässlich der Einnahme der Städte Jaroměřice und Znoijmo in der Tschechoslowakei sowie Hollabrunns und Stockeraus in Österreich.

Kategorie III (12 Salven aus 124 Geschützen): zu wichtigen militärisch-operativen Erfolgen wie der Einnahme von wichtigen Eisenbahn-, See- und Landverbindungen und Knotenpunkten oder der Einkreisung von größeren Verbänden des Feindes. Es gab 122 Salute der Kategorie III: den ersten am 30. August 1943 zu Ehren der Befreiung Taganrogs, den letzten am 8. Mai 1945 anlässlich der Einnahme der Stadt Olmütz in der Tschechoslowakei durch die sowjetischen Truppen.

Insgesamt wurden während des Großen Vaterländischen Krieges 355 Salute abgegeben, die durch Feuerwerke aus verschiedenfarbigen Signalraketen sowie Leuchtstrahlen von Scheinwerfern der Flugabwehr begleitet wurden.

Die Salute wurden durch einen Befehl des Oberkommandierenden angeordnet und in Moskau abgegeben. Die einzige Ausnahme bildete ein Salut der Kategorie I in Leningrad, der am 27. Januar 1944 anlässlich der vollständigen Befreiung der Stadt von der Blockade veranstaltet wurde. Im Unterschied zu den anderen wurde der Befehl zu seiner Durchführung im Auftrag des Oberkommandierenden Josef Stalin von Leonid Goworow, dem Kommandierenden der Leningrader Front, unterzeichnet.

Am 9. Mai 1945 wurde anlässlich des Sieges über Nazi-Deutschland in Moskau ein “besonderer” Salut gegeben: 30 Artilleriesalven aus 1000 Geschützen, begleitet von sich kreuzenden Strahlen aus 160 Scheinwerfern sowie von verschiedenfarbigen Raketen.

Die Parade

Die Siegesparade, die am 24. Juni 1945 stattfand, wurde noch nicht zur alljährlichen Tradition. Die nächste Parade, die dem Tag des Sieges gewidmet war, wurde am 9. Mai 1965 veranstaltet. Dabei trug man zum ersten Mal die Fahnen des Sieges über den Roten Platz. An der Parade nahmen Teile der Moskauer Garnison sowie Offiziersschüler der Militärhochschulen und -akademien teil. Fast ein Drittel der Teilnehmer waren Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges.

Eine weitere Parade zum 9. Mai wurde 1985 anlässlich des 40. Jahrestages des Sieges durchgeführt. Neben Truppenteilen und moderner Militärtechnik waren daran auch Veteranenkolonnen und Gefechtsfahrzeuge aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs beteiligt, darunter Panzer vom Typ T-34/85, Selbstfahrlafetten vom Typ SU-100 sowie Mehrfachraketenwerfer vom Typ BM-13 (“Katjuscha”). Die Militärangehörigen, die am historischen Teil der Parade teilnahmen, waren in Uniformen aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges gekleidet.

Auch an der Parade am 9. Mai 1990 war Militärtechnik aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges beteiligt. Während des historischen Teils der Parade fuhr über den Roten Platz ein Sattelschlepper, auf dem sich eine genaue Nachbildung der Befreier-Statue aus dem Treptower Park in Berlin befand.

Am 9. Mai 1995 wurde auf dem Roten Platz die historische Siegesparade von 1945 wieder aufgeführt. In gemischten Veteranenregimentern waren alle zehn Fronten der Kriegsjahre mit ihren Fahnen vertreten. Über den Roten Platz marschierten außerdem Militärdienstleistende der russischen Armee, die in Uniformen aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges gekleidet waren. Am selben Tag fand auf dem Kutusow-Prospekt am Poklonnaja-Hügel eine Militärparade mit Teilen der Moskauer Garnison, Offiziersschülern der Militärhochschulen, Militärtechnik und Flugabwehr statt.

Am 19. Mai desselben Jahres wurde das Föderale Gesetz “Über die Verewigung des Sieges des sowjetischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945” erlassen. Dieses schreibt die jährliche Durchführung von Paraden unter Einbeziehung von Waffen und Militärtechnik sowie von Kopien der Siegesflaggen in Moskau, den Heldenstädten und außerdem in den Städten vor, in denen die Stabsquartiere von Wehrbezirken, Flotten, allgemeinmilitärischen Truppen sowie der Kaspischen Flottille stationiert sind.

Seitdem werden die Paraden zum Tag des Sieges jedes Jahr auf dem Roten Platz durchgeführt.

Das Georgsband

Diese öffentliche Aktion zur Verteilung von symbolischen Bändern entstand auf Initiative von “RIA Novosti” und der Regionalen Gemeinnützigen Organisation für die soziale Unterstützung der Jugend (ROOSPM) “Studentische Gemeinde”. Sie wurde zum ersten Mal im Jahr 2005 organisiert und ist seitdem ein unverzichtbarer Teil des Feiertags.

Das Georgsband entspricht äußerlich und farblich dem Band, mit dem die Ordensspange der Medaille “Für den Sieg über Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945” eingefasst war, die am 9. Mai 1945 gestiftet wurde.

Die Aktion “Unsterbliches Regiment”.

Im Jahr 2012 wurde in Tomsk zum ersten Mal die Aktion “Unsterbliches Regiment” durchgeführt: Die Teilnehmer der Aktion gehen in einer Formation und tragen Porträts ihrer Vorfahren – Elter, Großeltern und Urgroßeltern – die im Krieg gekämpft haben. Ab dem Jahr 2013 verbreitete sich diese Tradition in ganz Russland und über seine Grenzen hinaus; Jahr für Jahr kommen immer neue Städte und Länder hinzu. Im Jahr 2015 vereinte die Aktion etwa 12 Millionen Menschen, die an den Umzügen in Russland teilnahmen. Allein in Moskau waren es 500 000 Teilnehmer.

– Natalja Jansson, Historikerin und Museologin


Fußnoten

1. Die Volkskommissariate waren in Sowjetrussland und der UdSSR von 1917-1946 die zentralen Organe der staatlichen Leitung.

2. Das Lenin-Mausoleum ist ein Denkmal und eine Begräbnisstätte an der Kremlmauer auf dem Roten Platz in Moskau, in dem seit 1924 der Körper von Wladimir Lenin in einem durchsichtigen Sarkophag aufbewahrt wird.

3. Mandelstam, J.I. (Hrsg.): Sammelband der Gesetze der UdSSR und der Erlasse des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. 1938 – Juli 1956. Moskau 1956: Staatlicher Verlag für juristische Literatur. S. 376.

Quellen:

  • Mandelstam, J.I. (Hrsg.): Sammelband der Gesetze der UdSSR und der Erlasse des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. 1938 – Juli 1956. Moskau 1956: Staatlicher Verlag für juristische Literatur.
  • 1) S. 216, Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 8. Mai 1945.
  • 2) S. 376, Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 23. Dezember 1947
  • Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. April 1965
  • TASS-Artikel: “Dieser Tag des Sieges”, 8. Mai 2016. https://tass.ru/obschestvo/1832561?page=2
  • TASS-Artikel: “Geschichte der Salute des Großen Vaterländischen Krieges. Dossier”, 8. Mai 2014. https://tass.ru/info/1173744
  • TASS-Artikel: “Geschichte der Siegesparaden. Dossier”, 8. Mai 2014. https://tass.ru/info/1174013
  • RIA Novosti-Artikel, 9. Mai 2015. https://ria.ru/20150509/1063632518.html
  • Gusjew, I.J.: Auszeichnungen, Orden und Medaillen in Russland, der UdSSR und der Welt. Moskau 2013.
  • Große Russische Enzyklopädie in 35 Bänden. Moskau 2005.