Vorträge über die Leningrader Blockade
Für das Projekt “Humanitäre Geste” baten wir Milena Nikolajewna Tretjakowa, Direktorin der Autonomen Nichtkommerziellen Organisation (ANO) “Erinnerungskultur” und Spezialistin im Bereich der Bewahrung der historischen Erinnerung an die Leningrader Blockade, für alle Interessierten zwei Vorträge zu diesem Thema zu halten. Die Vorträge fanden unter den Titeln “Die Leningrader Blockade. Die Zeit des Massensterbens” und “Die Erinnerung an die Blockade” im März 2020 im drb statt.
Konstantin Petrow, Student an der Fakultät für Journalismus der SPbGU, früher ein häufiger und aktiver Teilnehmer unserer Veranstaltungen, war bei beiden Vorträgen anwesend und hat den Text verfasst, den wir heute veröffentlichen:
“Stimmen zu Leningrad
Als sich am 17. März die Meldungen darüber verbreiteten, dass die Theater und Museen von Petersburg geschlossen werden, schien es, dass der Puls der Stadt schwächer geworden sei. Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren noch, die Geschäfte sind noch geöffnet, die Menschen fahren zur Arbeit, sitzen im Café, gehen spazieren … Aber es zeigte sich bereits eine Leere und die Stadt begann, ihre Lebenskräfte zu verlieren.
Umso erstaunlicher war die Ankündigung des drb, dass die Deutschstunden für Kinder und Jugendliche verschoben werden (oder online durchgeführt werden), dass ABER am 19. März, ungeachtet der Quarantäne, der Vortrag “Erinnerung an die Blockade” stattfinden würde. Im Rahmen des Projekts “Humanitäre Geste” war dies die dritte und abschließende Vorlesung von Milena Tretjakowa, der Direktorin der ANO “Erinnerungskultur”.
Es ist symbolträchtig, dass in einer Zeit der Epidemie und Selbstisolierung, ausgerechnet ein Abend zur Erinnerung an das belagerte Leningrad nicht abgesagt wird. Als ob alles Nichtige und Flüchtige ausgesondert wird und Platz für das wirkliche Wichtige und wahrscheinlich sogar Ewige macht …
Zu dem Vortrag hatten sich nicht mehr als 30 Teilnehmende angemeldet, sodass die formale Begrenzung auf 50 Personen keine Unruhe hervorrief. Schlussendlich versammelte sich eine recht gemütliche Gesellschaft aus zehn Gästen. Sie setzten sich mit einigen Metern Abstand zueinander, was der geräumige Konferenzsaal an der Petrikirche glücklicherweise gestattete.
Es kamen sowohl einzelne Besucher als auch Paare aus Eltern und ihren erwachsenen Kindern. Weil das Thema, so kann man sagen, universell ist. Als Erinnerung an ihre Verwandten ist es wichtig für Familien, als Verbindung zum Erbe der Stadt ist es wichtig für alle Petersburger.
Dieser Vortrag war wie die vorherigen den Besonderheiten der “Zeit des Massensterbens” (1941/42) und der Bewahrung der Erinnerung an die Blockade gewidmet. Milena Tretjakowa legte einen grundsätzlichen Denkanstoß in ihre Auftritte: Die Leningrader Blockade muss nicht nur als heroische Seite unserer Geschichte betrachtet werden, sondern auch als tragische humanitäre Katastrophe.
Zu Sowjetzeiten verschob sich der Akzent in die feierliche Richtung. Die Blockade – das war eine Großtat des Volkes, die Stadt – eine Heldin. Und es konnte überhaupt keine Rede sein von umstrittenen oder dunklen Episoden. Ein Held ist tadellos und kann keine Trauer oder Zweifel empfinden: nur Freude mit Tränen in den Augen.
Geschichte ist kein Megafon, aus dem nur die vermögende Macht verkündet wird und Fakten zum eigenen Vorteil verdreht werden. Es sind nicht nur Siegesparaden und Kundgebungen.
Geschichte – das ist Mehrstimmigkeit. Auch die Leningrader Blockade ist facettenreich und ambivalent. Dort gab es Platz für Heldenmut, aber auch für Verbrechen und Fehler. Und wir sollten uns nicht auf grundlegende Vorstellungen über die Periode beschränken. Wir müssen alle Seiten unserer gemeinsamen Geschichte annehmen und uns an sie erinnern.
Man darf abweichendes Verhalten, Probleme bei der Evakuierung und die Schuld der sowjetischen Regierung nicht verschweigen, weder vor Ort, noch in den höheren Etagen. Es ist aber auch nötig, sich an die Schuld des nationalsozialistischen Deutschlands zu erinnern.
Die ganze Welt weiß um den Holocaust. Die Erinnerung an dieses schreckliche Phänomen vereint Europa und definiert die Ausrichtung moderner Politik.
Aus der Leningrader Tragödie hat die Weltgemeinschaft nur das Verbot gezogen, mit dem Hunger zu kämpfen.
Gleichzeitig regen die Ereignisse der Blockade auch zu weiteren Überlegungen an. Was rettete man durch die Evakuierung der Museumskollektionen ´41: das kulturelle Erbe oder die finanzielle Reserve? Wen sollte man evakuieren: wertvolle Mitarbeiter, alte Menschen und Kinder oder die Familien der Parteiführung? Wie sollten die überleben, die zu Beginn des Krieges ihre Arbeit oder überhaupt das Recht zur Arbeit in Betrieben verloren hatten, da man für das Essen nach wie vor bezahlen musste? War die Deportation der ethnischen Finnen und Deutschen eine unfaire Bestrafung oder eine unerwartete Rettung für die Verbannten? War es richtig, Ressourcen für die Pflege der Tiere im Zoo zu verschwenden oder Sammlungen von Pflanzensamen zu schützen?
Diese Fragen müssen nicht eindeutig oder in den Kategorien richtig-falsch beantwortet werden. Aber diese Fragen müssen gestellt werden.
Die Leningrader Blockade ist kein Sammelband von Mythen und Legenden der sowjetischen Vergangenheit, sondern die Geschichte von lebenden Menschen und eines ganzes Landes – aber auch eine Lehre für die Zukunft. Und offenbar keine vergebliche Lehre, denn auch heute kann man auf den Straßen über den Lärm der Autos und die Schreie der Möwen hinweg das durchdringende Klopfen in den Lautsprechern hören. Vielleicht ist auch die gegenwärtige Epidemie eine Art eigentümlicher Kontrolle: welche Schlüsse wir – die Menschen und der Staat – aus dieser schweren Lehre gezogen haben. Welche Schlüsse haben wir denn aus der humanitären Katastrophe des belagerten Leningrad gezogen?
Auflistung einiger elektronischer Ressourcen über die Blockade aus der Präsentation von Milena Tretjakowa.
DIE SCHLACHT UM LENINGRAD. Nachschlagewerke, Bibliotheken, Enzyklopädien
MILITÄRLITERATUR. militera.lib.ru
Archivdokumente, Memoiren, Studien, Belletristik
MILITÄRALBUM. waralbum.ru
Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Großen Vaterländischen Krieg (1939-1945)
RKKA (1939-1945). rkka.ru
Uniformen der Roten Armee und der Roten Flotte, Enzyklopädie, Bibliothek, ArchivdokumenteTHE RUSSIAN BATTLEFIELD. battlefield.ru
Bewaffnung, Schlachten, BibliothekKALENDER DES SIEGES. pobeda.elar.ru
IM KREIS DES KRIEGES. warspot.ru
Populärwissenschaftliche Enzyklopädie nach dem Prinzip eines periodischen Nachrichten-InformationsmittelsPROJEKTE DER PRESSE UND NEUE MEDIEN
Projekte zu Gedenktagen:
Projekt “900 TAGE”. tass.ru
Projekt “GROẞTAT UND SCHMERZ: DIE HELDENHAFTEN 872 TAGE DER LENINGRADER BLOCKADE”. iz.ru
Projekt “LENINGRAD – STADT DER LEBENDEN”. spb.aif.ru
Themenbezogene Programme:
Programm “DER PREIS DES SIEGES”. echo.msk.ru
Programm “DER TAG DES KRIEGES”. echo.msk.ru
Themenbezogene Rubriken im Lauf des Jahres, eingeladene Experten, Veröffentlichungen von Tagebüchern
“DILETTANT”. diletant.media
Vorlesungskurs, themenbezogene Artikel, Publikation von dokumentarischen Materialien
ARZAMAS. arzamas.academy
ANDERE PROJEKTE
“NICHT AUS DER LUFT GEGRIFFENE ERZÄHLUNGEN ÜBER DEN KRIEG”
“BLOCKADE. STIMMEN”
“LENINGRAD. BLOCKADE. GROẞTAT”
“LENINGRAD. SIEG””
Text und Fotos: Konstantin Petrow