Wissenschaftliche Literatur über die Blockade
Unser heutiger Artikel bietet einen Überblick über einige wichtige wissenschaftliche Publikationen zur Geschichte der Leningrader Blockade.
Jörg Ganzenmüller: „Das belagerte Leningrad 1941-1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern“
Die deutsche Historiografie zur Leningrader Blockade ist relativ überschaubar. Als zentrales Werk kann jedoch die erstmals 2005 erschienene Monografie des Historikers Jörg Ganzenmüller (geb. 1969) angesehen werden: Der Autor liefert darin eine anschauliche und umfassende Darstellung militär-, wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Aspekte, die nicht nur die deutsche, sondern auch die sowjetische Perspektive miteinbezieht (zur Zeit der Veröffentlichung des Buches ein Novum in der Geschichtswissenschaft des Zweiten Weltkriegs). Im ersten Teil analysiert Ganzenmüller die Blockade im Kontext der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Osteuropa. Der zweite Teil untersucht auf der Grundlage von historischen Dokumenten die Strategien, mit denen die sowjetische Regierung den existenziellen Herausforderungen der Blockade zu begegnen versuchte. In einem abschließenden Exkurs widmet sich der Autor der Frage nach der Rolle der Blockade in der deutschen und sowjetischen Erinnerungskultur.
Sergej Jarow: „Das Alltagsleben im belagerten Leningrad“
Diese Monografie des Petersburger Historikers Sergej Viktorowitsch Jarow (1959-2015) zeichnet ein eindrucksvolles Bild des alltäglichen Lebens im Leningrad der Blockadezeit. Anhand von zahlreichen Quellen, darunter auch bisher unveröffentlichten, analysiert Jarow die Überlebensstrategien der Leningrader. Der erste Teil des Buches widmet sich gewissermaßen der städtischen „Infrastruktur“, die für das Leben der Menschen während der Blockade eine entscheidende Bedeutung hatte: Neben den Straßen und Häusern geht Jarow auf die Geschäfte, die Kantinen und die Märkte Leningrads ein. Im mittleren Teil beschäftigt er sich mit der sog. „Zeit des Sterbens“ im Winter 1941/42. Der letzte Teil trägt den Titel „Die Menschen“ und beschreibt die äußerliche Erscheinung der Leningrader sowie die Themenfelder Evakuierung, Lebensmittelkarten, Essen und Freizeitgestaltung.
Wladimir Pjankewitsch: „Die Menschen lebten von Gerüchten: der informelle Kommunikationsraum des belagerten Leningrad“
In seinem 2014 erschienenen Buch untersucht der Petersburger Geschichtsprofessor Wladimir Leonidowitsch Pjankewitsch (geb. 1956) am Beispiel der Leningrader Blockade die informelle Kommunikation und das Verhalten von Menschen in Katastrophensituationen. Er zeigt, dass die belagerten Leningrader nicht nur unter Nahrungsmangel und Kälte litten, sondern auch am „Hunger“ nach Informationen, der sich oft als ähnlich quälend erwies. Aufgrund fehlender oder unzureichender offizieller Nachrichten waren die Leningrader häufig auf informelle Neuigkeiten wie Gerüchte, Gespräche in den Warteschlangen oder den „Buschfunk“ auf selbst organisierten Trödelmärkten angewiesen. Pjankewitsch macht deutlich, dass das durch diese Ungewissheit erzeugte ständige Schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung zum Alltag der Blockadezeit gehörte.
Ganzenmüller, J. (2007): „Das belagerte Leningrad 1941-1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern“. Paderborn: Ferdinand Schöningh.
Jarow, S. (2018): „Das Alltagsleben im belagerten Leningrad“. Moskau: Molodaja Gwardija.
Pjankewitsch, W. (2014): „Die Menschen lebten von Gerüchten: der informelle Kommunikationsraum des belagerten Leningrad“. Sankt Petersburg: Wladimir-Dal-Verlag.