Zum 80. Jahrestag des Beginns der Leningrader Blockade
Vor beinahe 80 Jahren, am 8. September 1941, begann die Leningrader Blockade. Die Belagerung der Stadt durch deutsche und finnische Truppen dauerte 872 Tage und forderte – je nach Quellenangabe – zwischen 600 000 und 1,5 Millionen Menschenleben.
Nachdem Nazi-Deutschland die Sowjetunion am 22. Juni 1941 ohne vorherige Kriegserklärung überfallen hatte, machte die Wehrmacht innerhalb kürzester Zeit große Geländegewinne. Bis Mitte Juli eroberten die deutschen Truppen weite Teile des Baltikums, der Ukraine und Weißrusslands. Schon in der zweiten Augusthälfte nehmen sie Weliki Nowgorod ein, weshalb viele Tausende seiner Bewohner in das nur knapp 200 Kilometer entfernte Leningrad fliehen. Die zweitgrößte Stadt der Sowjetunion beginnt indes mit den Vorbereitungen zu ihrer Verteidigung, die Zivilbevölkerung wird für den Bau von Panzerabwehranlagen und Schutzgräben mobilisiert. Am 30. August besetzen die Deutschen den kleinen Ort Mga am Südufer des Ladogasees und durchschneiden damit die letzte noch bestehende Eisenbahnverbindung zwischen Leningrad und dem sowjetischen Hinterland. Im Norden Leningrads stehen zu diesem Zeitpunkt bereits die finnischen Truppen, die das im Winterkrieg von 1939/40 verlorene Territorium zurückerobert und an der ehemaligen finnisch-sowjetischen Grenze Halt gemacht hatten. Nach und nach besetzen die Deutschen die Leningrader Vororte, an einigen Stellen stehen sie nur knapp vier bis sieben Kilometer vor der Stadt. Mit der Einnahme der Kleinstadt Schlüsselburg am 8. September schließt die Wehrmacht den Belagerungsring um Leningrad endgültig.
Zu diesem Zeitpunkt befinden sich in der Stadt noch etwa drei Millionen Menschen: ca. 2,5 Millionen von ihnen sind Zivilisten, darunter etwa 400 000 Kinder. Bereits am 6. September 1941 erfolgt der erste deutsche Luftangriff auf Leningrad, am 8. September der zweite. In den folgenden Wochen und Monaten wird die Stadt massiv bombardiert und von der deutschen Artillerie beschossen. Über Hitlers Pläne für die Bevölkerung der alten Hauptstadt des Russischen Reiches darf man sich keine Illusionen machen. In einer geheimen Direktive des Stabes der deutschen Kriegsmarine vom 22. September 1941 heißt es: “Der Führer hat beschlossen, die Stadt Petersburg vom Antlitz der Erde zu tilgen. Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse an dem Fortbestand dieser Großsiedlung. […] Es ist beabsichtigt, die Stadt eng einzuschließen und durch Beschuss mit Artillerie aller Kaliber und laufendem Bombeneinsatz dem Erdboden gleichzumachen. Sich aus der Lage der Stadt ergebende Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden. […] Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung besteht […] unsererseits nicht.” 1
Um seine Soldaten vor einem verlustreichen Häuserkampf zu bewahren, hatte Hitler beschlossen, Leningrad nicht zu stürmen, sondern langsam und qualvoll auszuhungern. Gezielt bombardierte die deutsche Luftwaffe deshalb schon am 8. September 1941 die im Süden der Stadt gelegenen Badajew-Lagerhäuser, wo sich ein Großteil der Lebensmittelvorräte befand. Die Lagerhäuser brannten vollständig nieder, der in ihnen gelagerte Zucker schmolz und versickerte in der Erde. Nur wenige Wochen später, als in der belagerten Stadt eine Hungerkatastrophe nie gekannten Ausmaßes ausgebrochen war, wurde die süße Erde auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen verkauft.
Eduard Wladimirowitsch Smurago (*1929), der mit seiner Familie im – ab Ende September ebenfalls belagerten – Oranienbaum (heute: Lomonossow) lebte, erinnert sich folgendermaßen an den Beginn der Blockade:
“Am 8. September fuhren meine Mutter und ich nach Leningrad, denn die S-Bahnen fuhren damals noch dorthin. Wir kamen wohlbehalten bis zum Baltischen Bahnhof, gingen zum Straßenbahnring – und dort wurde dann, etwa um 2 Uhr mittags, Luftalarm gegeben. Es stellte sich heraus, dass deutsche Flugzeuge in die Stadt eingedrungen waren und Bomben in der Nähe des Moskowskij Prospekt abwarfen. Zu dieser Zeit standen wir im Bahnhofsgebäude. Der Tag war sonnig und wir beobachteten die Situation. Wir sahen schwarzen Rauch, der immer stärker wurde. Später erfuhren wir, dass die Badajew-Lagerhäuser bombardiert worden und dabei die Lebensmittelvorräte verbrannt waren.
Der Luftalarm dauerte bis zum Abend. Mit Pferdefuhrwerken und der Straßenbahn gelangten wir gegen 9 Uhr abends zu unseren Verwandten, die in der Nähe des Moskauer Bahnhofs wohnten.
Nachdem wir also die Situation in der Stadt kennengelernt hatten, kehrten wir am zweiten Tag nach Oranienbaum zurück. Später erfuhren wir, dass Leningrad seit dem 8. September belagert wurde.”
Heute zählt der 8. September als “Gedenktag für die Opfer der Blockade” zu den wichtigsten Daten im Erinnerungskalender von Sankt Petersburg. Traditionell finden an diesem Tag in der Stadt zahlreiche Veranstaltungen und Gedenkaktionen statt – offizielle wie auch zivilgesellschaftliche. Zu den bekanntesten davon gehören zweifellos die Trauerzeremonie und Kranzniederlegung am Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof sowie am Denkmal für die heldenhaften Verteidiger Leningrads am Platz des Sieges. In diesem Jahr wird es anlässlich des runden Jahrestags noch einige weitere Aktionen geben: Viele städtische Museen organisieren Sonderausstellungen und Vorträge. Zudem werden am 8. September 2021 an über 90 Orten in der Stadt die Namen all derjenigen verlesen, die während der Blockade ums Leben kamen.
Quellen:
D. Granin, A. Adamowitsch (2018): Blockadebuch. Leningrad 1941-1944. Berlin: Aufbau.
Artikel “Der Überfall auf die Sowjetunion”. Lebendiges Museum Online.
- Zitiert nach: Schulze, Ingo: “Überfall auf die Sowjetunion 1941. Unfassbare Wirklichkeiten.” In: taz.de vom 22.06.2021.